freiVERS | Enno Ahrens

Auf dem Weg nach Feuerland

war mir ein stummer Mensch begegnet.
Den genauen Standort verrate ich nicht.
Er war von kleiner, gedrungener Statur,
seine Haut wie ein grauer Neoprenüberzug.

Erst dachte ich: Ein Pinguin.

Im Glastlicht der Abendsonne
schaute ich von oben auf ihn herab;
da wurde er plötzlich unsichtbar.
Sah ich ihn schräg von der Seite an,
zeigte er sich in Giftgrün.
Er selbst verzog dabei nie eine Miene.

Kurzzeitig dachte ich: Ein Chamäleon.

Aber das traf auch nicht zu, wie ich
nach genauer Untersuchung, von
ihm geduldet, feststellen durfte.

Leuchtstoffspuren ließen sich
ebenfalls nicht nachweisen.

Es konnte nur in meinem Blick gelegen haben.

Egal, wie das Licht einfiel, sogar im Halbdunkeln,
von oben herab betrachtet, löste er sich auf.
Schräg von der Seite angestarrt,
erschien ein warnendes Giftgrün.

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Enno Ahrens

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freiVERS | David Howald

In einem anderen Land

Kleine Fingerspitzen klauben peripher am großen Wattebausch der Gedanken,
wenn ich ihn so zu bündeln versuch', dass er schweigt;
zuerst halte ich ihn statisch, dann schwebend, dann vollflächig.
Ich verkaufe mir die alten als neue Gedanken.

Ich betrete deine Domäne hoch oben im Wald,
wo du einen neurotisch-psychotisch reinigenden Trank vorbereitest.
Der Dampf steigt dir wohlriechend zu Gesicht,
du spiegelst dich in deinem Werk.
Es ist das, worauf du immer gewartet hast
und das, worauf du immer warten wirst.
Ich werfe dir Selbstbetrug vor,
du verbannst mich dafür aus dem Kreis des Waldes.

Der Anflug eines Gespenstes
stößt mich über die Kante eines hohen Felsens
ins stachlige Dickicht der Föhren hinab.
Auf dem Weg nach unten, hab' ich mich zahlreiche Male verwandelt:
Engel scheren an meiner Kontur aus,
hartes Gefieder flackert wie Lederriemen in der konzentrieren Sturzluft.
Mit dem Plastik-Zauberstab taktet klein Oona meine Metamorphose:
Sie sitzt im Schoße Gottes, dieser wiederum sitzt im Schoße eines anderen Gottes.
Alle sind sie sich einig, dass das Kleinkind die Pforte zur Unendlichkeit sein soll,
aber keiner mag entscheiden, wo diese ihren Endpunkt finden wird,
wie in einem Exzess, der sich im Übermut endlos verkettet.

Oona zaubert weiter und schaut mich mit meinen eigenen Augen an.
Ihr Glitzern erfüllt mich von innen,
wie Champagner-Bläschen steigt Liebe in mir hoch.
Der Rohbau der Zukunft steht irgendwo weit entfernt,
in einem andern Land.

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David Howald

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freiVERS | Hatice Acikgoez

an meine hijabis

als meine beste freundin in der sechsten klasse
mit einem kopftuch in die schule kam
sah ich die blicke der anderen

ich bewunderte sie
wie konnte sie so stark sein
und diesen blicken standhalten

ihre tage änderten sich
sie bestanden nur noch
aus einem steten erklären ihrer entscheidung
aus stetem rechtfertigen
aus stetem zerstören von vorurteilen

-----

irgendwann wandelten sich die schockierten blicke
und füllten sich mit hass
bis ein junge ihr den hijab vom kopf riss
und ihr dunkles haar für jeden sichtbar wurde

als er lachte
und sie voller angst und scham
ihre haare bedeckte
änderte sich erneut etwas

ihre tage bestanden von nun an
aus steter vorsicht
aus dem beklemmenden gefühl
dass ihre entscheidung zur verhüllung
andere belästigte

-----

seit diesem vorfall sind einige dinge geschehen

in frankreich gilt bedecktes haar
als zeichen des terrors
in österreich dürfen mädchen
nicht mehr über ihre kopfbedeckung bestimmen
und die schweiz verbietet das verhüllen in der öffentlichkeit
denn eine solche verhüllung sei extrem

und nun hat auch deutschland etwas bestimmt
hijabis wie meiner mutter
meiner schwester
und meiner besten freundin aus der sechsten
die jobchancen genommen

versteckt hinter der phrase neutralität am arbeitsplatz
versteckt hinter dem wort freiheit

denn was ist freiheit
wenn nicht eine starre definition
der weißen masse

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Hatice Acikgoez

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freiVERS | Pauline Vogelsanger

zeitverbleib

der ice sechshunderteins
nach münchen hauptbahnhof
krächzt und ächzt -
auch im ruhebereich.

bin wieder haltlos geworden,
mit dem lösen eines tickets,
bange und range
um vergangene zukunftssorgen.

kurze lebensabschnittspause
zieht wie zugvögel, ich
weiß und scheiß
drauf, nirgendwo zu hause.

holprige hoffnung schwingt schwach mit
in jede schienenkurve,
verweht und säht
die wurzelsaat (ungeschickt).

warten, warten, warten, warten,
zu rhythmischem regengeprassel,
jage und frage
nach dem sinn – warten in raten.

und ich hege diese ewigkeit
im drehen meiner daumen,
bedenke und verschenke
meine zeit.

.

Pauline Vogelsanger

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freiVERS | Anna Draxl

gehöft

1

du hast einen schädel im garten liegen sehen und konntest es nicht lassen du hast
die finger durch die augenhöhlen gesteckt
die risse an der kühlen oberfläche gefühlt
ihn schließlich aufgehoben
dabei feine wurzeln mit aus dem moosigen boden gerissen
als du gesehen hast dass unten noch ein wurm dranhängt
hast du dich unheimlich erschreckt den schädel fallengelassen bist weggerannt
hinein ins haus
um schokoladenkuchen mit marmelade drauf zu essen den die großmutter gerade
aus dem ofen geholt hat
iss nur iss
hat sie gesagt und ist dir mit der hand durch die haare gefahren

2

du hast gesehen wie sich das gesicht des zynischen mannes im stahl seiner maschinen
gespiegelt hat du hast
die weißen haare in seinem nacken gezählt siebzehn achtzehn
bis er sich umgedreht und dich davon geschickt hat
du konntest seine falten aber noch von weitem sehen elf zwölf
abends ist der zynische mann hinein ins haus gegangen
hat sich schmieröl von den händen gewaschen und mit einem scharfen messer speck
und dunkles brot geschnitten
du hast schokoladenkuchen mit marmelade drauf gegessen und ihn beobachtet
zu seinen nackten füßen ist der kater gelegen
iss nur iss
hat der mann gesagt

3

du hast gehört wie sich der stumme gärtner vor dem haus die erde von seinen stiefeln
geklopft hat du hast
als er dann in der küchentüre gestanden ist mit dem luftzug von draußen
den waldboden gerochen
die großmutter hat ihm vom holzofen aus zugenickt da ist er in die stube getreten
hat in seine taschen gegriffen ein bündel zwiebeln herausgezogen
von denen die erde leise auf den küchenboden gerieselt ist
du hast schokoladenkuchen mit marmelade drauf gegessen
während die großmutter weinend die zwiebeln geschnitten und sie dem stummen gärtner
zum brot gereicht hat
iss nur iss
hat sie gesagt und sich tränen und rotz in die schürze gewischt

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Anna Draxl

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freiVERS | Syna Saïs

mein weltenbrand

in meine verlassenheit traut sich
keiner hinein / noch nicht einmal zu sehen / und
in mein gedicht traut sich nur ganz selten mal ein
verirrter leser denn dort hagelt es immer ruinen
dort regnet es abgehalfterte silben, dort hügelt es
talwärts ins leere / in mein gedicht traut sich
kein lyrisches du mehr kein kyrillisches я seit jenes eine
dort einen krater der winterdürre hinterliess
und meine verlassenheit einfrostete
wie ein kristall wie das eis wie eine
sehnsucht in kunstharz
aber dann kamst du, hineingefühlt
in den weltenbrand des wiedererwachten
begehrens

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Syna Saïs

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freiVERS | Florian Kranz

Du hast ein Anagrammgesicht

(Anagramm-Hommage an Unica Zürns „Das ist ein Anagrammgedicht“)

 

Sein Anagrammgedicht haust
im Auge des Grams. Hat nicht an
mir das Schema genagt? In Haut
hat sein Damm echt grausig an
sein Anagramm gedacht, uh! Ist
das Auge im Gesicht? Mann (hart,
grimmig) hastet, denn auch Aas
macht Tigerhaie nass und mag
das Amt. Graue Gischt nahm ein
Gramm Anna. Gut, ich hasste die
Gischt eh. Au, niemand grast am
Haus! Gemacht in dem Anti-Sarg
ist unser Gamma-Gedicht. Ah! An
einem Hang saugt dramatisch
dumm Satans Haar. Geige nicht
im schaumigen Sand. Er hat Tag
um Tag gereimt, sah danach ins
achtseitige Gras und nahm am
Gang uns die Sicht. Er hat Mama
arm gesagt: „Nie hast du an mich
gedacht!“ Hut, iss ein Anagramm!

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Florian Kranz

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freiVERS | Nora Hofmann

im naturhistorischen museum

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und der saal 4 legt deine finger in falten
du knüllst an sammelst ein schmiegst dich an
krümmst dich ein (bitte nicht am glas aufstützen)
wühlst dich ein schmiegst dich an aufgeplatztes
an arme / an geröll / an die zeit
die lithogenese greift dir die haut ab

.

.
und der meteorit im saal 5 fühlt sich an wie ein narbengeflecht
an körpern: leuchtendes speist sich in den adergang
bleibt stehen geronnene mundflächen gesichter
schmelzfelder geschlossene augen dich wegstellen
aus der luft räumen als feuerkugel einschlagen lassen
krater in wälder / in straßen ohne einen laut

.

.

und im saal 7 verliest du ein fossil zum altschmerzschupper
der zersetzung übergeben angeschwemmte
irrgärten vom sand umwispert im rückgrat
verschlungenes eng an der zeit getragen
die ammoniten / die belemniten / die seelilien
jahre orte schlaf diverse gründe in stein gestoßen

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Nora Hofmann

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freiVERS | Alexandra Regiert

Pink Ladies

nun steht dir das meer offen
ein unendlicher ozean
betauchbar an der oberfläche
lichtreflektierend wie frischhaltefolie
perlmuttschimmernd
muschelrauschend
deephouse tanzende plastikkorallen
lecken die füße mit rauen zungen

ein meer aus pink-lady-äpfeln
und 3-D-drucker-landschaften
universell bahnbrechend berauschend

haarfarben wie regenbögen
mitte april und namen
die wie karamell auf der zunge zergehen
erfahrene bonbons
die herde klatscht beifall
in der zigarettenpause
wirft plastikblumen
an den strand
bejubelt echtes leben

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Alexandra Regiert

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