freiVERS | Philipp von Bose

Nun verzichte ich wissentlich

erkläre mir das lied vom tod,
damit ich mich nicht fürchten muss.

gibt es eine große tat, im tiefen
etwas mystisches,
wenn alles kalt & nennbar ist?

mondän ist die erschütterung, die
aufgeklärt durch köpfe zieht...
wie wolken: keine schäfchen mehr.

das wunder liegt verwundet da
und die tat, die möglich ist – erosion
durchs definieren

der zeit
der farben
und des lichts.

am anfang gab der geist
uns scham, nun...

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Philipp von Bose

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freiVERS | Sarah Pola Esadov

Da denkt einer den ganzen Tag
nur an Brücken.
Stahlbetonbrücken, Bogenbrücken,
Autobahnbrücken, Hängebrücken,
Sichtbetonbrücken.
So wie er Brücken liebt so liebt er.
Stahlhart, waschbetonweich, endlos lang.
Streicht über die Oberflächen von Brücken.
Bewegt sich gewissenhaft über die Brücken.
Stapft über die Brücken. Steht vor den Brücken,
an der Schwelle, unten und betrachtet sie.
In der Mitte ist die Aussicht am besten.
Er hält immer in der Mitte an.
Berufsbedingt aber muss er bis ans Ende gehen.
Manchmal dreht er um und geht wieder zurück.
Infrastruktur ist die Lösung denkt er.
Infrastruktur ist die Lösung sagt er.
So wie er Brücken liebt so liebt er.

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Sarah Pola Esadov

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freiVERS | Verena Längle

martian natives (wenn die Alten schlafen gehen)

Wenn die Alten schlafen gehen,
träumen sie von ihrer Erde, schwarzer Erde,
Mutterboden, voll bis obenhin mit Zeug? Bakterien, Algen,
Mikroplastik, Pilze, Biozide, Würmer, die (geliebte) Erde fressen,
pressen (durch das Mahlwerk ihres Körpers) und so tiefer sinken lassen,
was auf dieser Erde steht, einfach immer tiefer sinken in die dunkelste
Umarmung, wo die Ahnen sicher ruhen, auch wenn man das, was dort
passiert, schlecht ruhen nennen kann, weil hundertfach berührt
von Mündern, Borsten, Flüssigkeiten –

Visionen? Nichts, nur vage
Lichtempfindlichkeit und doch bereiten sie
den Boden für alles, was noch kommen wird, während
(statt zwei) ein blasser Mond aufgeht, der Meere hin- und
her bewegt und ihre Sehnsucht wiegt wie Kinder. Vermissen sie
den blauen Plan, der Mutter, Gott und Vater war, bevor sie ihn
entschlüsselt haben? Vermissen sie die Schwerkraft, die hier alles
leichter macht und auf der Erde dreimal schwerer? Lass sie
einfach weiterträumen! (wenn die Alten schlafen gehen,
sind wir längst auf und davon)

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Verena Längle

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freiVERS | Michael Pietrucha

nächtlich bin ich

die nachtigall im dickicht
dort sowie, sowie die
andere nachtigall hier
die mauern der mörtel
sind keine wände meine
gitter ich werde
der laubduft die lieder
die luft
wären nicht meine glieder
ein vöglein
bis in die morgenstille in die
ich es hülle
niemandem zeige
den mittag die mahlzeit
das meckern
darüber stülpe
bis das vöglein sich nächtlich
im aufschrei befreit
& singt & sucht
was allein
ich bin ich höre
dich bis in die morgenstille 

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Michael Pietrucha

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freiVERS | Liza Wandermaler

17 Luchse

Wusstest du, dass jeden Abend,
Siebzehn Luchse, leise trabend,
Auf den kleinen Waldseewiesen
Ihrem Schlaf entgegenwarten?

Ich hab sie gesehen… Glaub mir,
Nichts ist schöner, als ein Raubtier,
Das an einem blautürkisen
Abend kreist im Eden-Garten.

Und es fegen dunkelgrüne
Efeuranken die Tribüne,
Während jeder Stern die schlauen
Katzenaugen wiederspiegelt.

Warm benetzt das Moos die Steine;
Dunkel dämmern Fichtenhaine,
Während in den flachen Augen
Jemand seine Tür verriegelt.

Doch, wenn ich dir dies erzähle,
Lachst du und beteuerst sachlich,
Dass ein Luchs in uns‘ren Breiten
Sicherlich nicht hausen würde,

Dass die Phantasie endgültig
Den Verstand in mir verwirrte
Und dass du dich langsam fürchtest,
Ob mir noch zu helfen wäre.

Doch du hast sie nicht gesehen.
Und du ahnst nicht, was ich ahne.
Denn ich bin mir sicher: Luchse
Wissen mehr, als sie verraten…

Also muss ich wieder gehen,
Weg vom Lärm der Straßenbahnen,
Um erneut auf siebzehn Luchse
In dem Wald gebannt zu warten.

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Liza Wandermaler

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freiVERS | Sabrina Saase

just do it

den tod zum lachen
sisyphos zur ruhe
bringen
leben den lebenden
der blick zurück
selbst versteinerung bringt
entscheidungen gegen dich
immer leichter
als der sprung über den eigenen schatten
jump jump
over the gap
oder bis alles einstürzt

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Sabrina Saase

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freiVERS | Otto Dvoracek

Nichts ist größer

Ein Schwingen hervorrufen, Achterschleifen-Schwingungen
Endlosschleifen, die Milch übergehen lassen, die Milch
An vier Seitenwänden herabrinnen, über vier Seitenwände
In die Auffangwanne (weiß gekachelt) rinnen lassen
Das Milchweiß, das Weiß stampfen
Kind, Vater und Großvater stampfen
Auf einer weißen Kachelplatte, Kameras vor den Beinen
Aufnahmen im Stampfen, mit angewinkelten Beinen
Mit durchgestreckten Beinen, das Durchstrecken der Beine
Auf dem Weiß der Fliesen, Kalkweiß
Das Beschmieren der Wände, mit gleicher Beinstellung
Statt Titanweiß Kalkweiß, über eine Trennlinie schmieren
Kreuzweise über gravierte Stellen mit dem Text
NICHTS IST GRÖSSER schmieren, das Durchstrecken der Arme
So muss es wohl sein, schräg oben, nach oben
Einen wilden Bogen schmieren
Vater und Großvater tauschen Position
Kind und Vater tauschen Position
Großvater und Kind tauschen Position
Und alle Zeit gewinnen, Zeitpunkte, alles Geschehene
Alle Filme sehen, Aufnahmen im Stampfen
Dauer ohne Zeit, ein Schwingen
Achterschleifen-Schwingungen
Endlos weit

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Otto Dvoracek

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freiVERS | blume (michael johann bauer)

always adapt to your latest li(f)es

das hochhaus erhaelt sehr fragile seitenfluegel du ziehst ungestuetzt
um in den elften stock deine wohnung besteht aus vielen scherben
& querfeldein gesammelten naturrelikten die in neukombinationen
spannende eigenleben zu entwickeln scheinen sowie wurzelfaeden
brachliegende verbindungsmoeglichkeiten hoechstens in traeumen
flieszen fluessigkeiten durch diese dann stark vergroeszerten rohre
& versorgen dich mit allerlei daten deren volumen nicht chronisch
im widerspruch zu deinem fassungsvermoegen steht das bedeutet
dir hilft die zeit deine impulse zu verarbeiten & hin & wieder gar
nach kritischer selektion umzusetzen was du fuer sinnvoll haeltst

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blume (michael johann bauer)

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freiVERS | Johannes Bruckmann

Neubeginn

Es ist schon wieder hell geworden
Aber dieser Morgen begann vor vielen Jahren
Als die Zeit
Noch für mich zuständig war

Es ist, als bräuchte ich jetzt einen Anhaltspunkt
Es ist, als wäre ich mit meiner eigenen Erzählung
Zu weit gegangen
Und müsste jetzt etwas tun
Das ich bereuen kann
Um dann
Neu zu beginnen

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Johannes Bruckmann

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freiVERS | Donka Dimova

Manchmal, wenn ich mir anschaue

wie der weiße Kater meines Nachbar
unverschämt das Fensterbrett im vierten Stock abmisst,
dann frage ich mich,
ob ein paar Zentimeter Gleichgewicht ausreichen?
Wie viele der sieben Leben schon verbraucht sind?
Vielleicht sind Kater auch mal lebensmüde?
Manchmal, wenn ich ihn anschaue, frage ich mich:
Was für eine wahnsinnige Neugierde?

Doch, was verstehe ich vom Wahnsinn,
der aufm Fensterbrett stolziert,
der furchtlos wählen kann:
viele vernünftige Leben
oder einen irrsinnigen Sekundenflug.

Ich glaube nicht an Schicksal.

Ich erinnere mich an meinen Nachbar,
dessen weißer Schatten noch stolziert
in meinen Augen.
Er, der Wahnsinnige wählte die Sekundenfreiheit.
Ohne Schutzgeländer, ohne Mühe
sprang durchs Fenster seine Furchtlosigkeit.

Vielleicht glaubt der Kater,
sein Herr hatte viele Leben und sucht ihn noch?

Warum ist er gesprungen?

Für den Sekundenflug?
Und danach Scherben der Fehldeutung.
Sekundenflug, klackernde Uhrzeiger, Räder, Kolben
vermessen den Wahnsinn.

Aber wie soll ich an die Zeit glauben,
wenn das Weltall vergisst
die Jahre des Lichtes zu zählen,
wenn mein Kopf sogar
langsamer altert als die Füße.
Ohne Erdanziehungskraft würden wir ewig leben.
Es stimmt. Frage die Physik!
Die Zeit ist nicht linear. Sie ist in uns.
Die Uhrwerke sind der Entwurf
von kranken Geistern ohne Zeit.

Dann warum soll diese selbstmörderische Kleinzeit
von meinem Nachbarn keine Ewigkeit fortdauern?

Der Wahnsinnige im Sturzflug nach unten
der Kater hinterher
in einem unmessbaren Glück.

Alle Uhrmacher schauen zu, wie ihre Zeit abläuft.

Der Körper wird auf dem Boden prallen,
aufplatzen wird neben Hirn und Adern
auch das Wissen.
Die Haare werden zerstreut aufm Bürgersteig,
die Vernunft zermatscht in eine Pfütze.
Zahnräder, Gelenke und Vorstellungen
werden herrenlos durch die Straßen rollen.
Nur der Wahnsinn feiert.
Wenn ich all diese Bruchstücke aufsammel´,
werde ich dann besser schlafen können?
Wird der weiße Schatten dann verschwinden?

Manchmal schaue ich mir
den weißen Kater meines Nachbar an
und frage mich:
„Was für eine wahnsinnige Neugierde?

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Donka Dimova

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