20 | Kerstin Fischer

Winterfrage

Die Portraits in Öl stehen im Schnee der Stadt.
Ihre jahrhundertealten Blicke ziehen über die Graffitis der Häuserwände.
Dann lesen sie in den Weissagungen der Kälte.
Aber der Frost ist taub für jedes Gefühl. Er baut Nester in die Jacken der Obdachlosen,
bis sie winseln wie Hunde, die durch die Schatten im Rotlicht der Amsterdamer Straßen schleichen.
Die Tiere beobachten, wie es die Genitalien wund schlägt, das Licht, bei Nacht betrachtet.
Hinter den schweren Holztüren hallt indes das Gelächter der Verstorbenen.
Es macht die Gesichter bleich. Extasy ist en vogue.
Nuttenkrallen schlagen gegen die Scheiben.
Sie brechen das Eis in dem frierenden Hirn des Mannes
mit dem Muttermal über dem Auge, das er Igel nennt.
Er wirft seine schwarzen Ringe in den Rinnstein. Der Vorhang aus Filz ist geschlossen.
Die anderen warten im Eisregen.

Kerstin Fischer

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freiVERS | Kerstin Fischer

Weiße Gedichte

Die Krise ist eine Metropole. In ihre Berechnung fällt blauer Schnee.
Zurück bleibt das Tauwasser auf den Gleisen. Die Schimmel der Ängste trinken davon. Zeitnah. Dann fliehen sie mondsüchtig über die Weiden.
Ich kämme den Rest der Stadt mit meinen Blicken. Durch ihn läuft mein Tropfen Zeit,
bevor er sein Meer erreicht.
Die gläsernen Fassaden der Bürohäuser spiegeln dazu die vertanen Möglichkeiten.
Menschensilhouetten bespielen den Raum. In den Händen Jahrgangssekt.
Ich bleibe in Ufernähe, bei den jungen Hunden.
Sie schlagen ihre Zähne in die Wolken. Die Gedichte sind weiß an diesem Morgen.

Kerstin Fischer

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freiTEXT | Kerstin Fischer

freiTEXT_Illus7-6

Todesblume

Die Todesblume kennt den toten Leib,
zeichnet weiße Linien in seinen stillen Ernst.
Auf das Bett ist die Hoffnung geträufelt.
Die Augen sind noch geöffnet.
Niemand wagt sie zu schließen,
bei all dem, was sie gesehen haben –
und Blut ist an den Füßen.
Durch Scherben sind sie gelaufen
in den gläsernen Abrissbauten der Kindheit.
Und blass sind die Finger,
der Lebenssaft zurückgezogen.
Der Geist indes sitzt wachsam daneben.
Er ist ansprechbar für jedermann,
der ihm zuhört
und kreuzt die Lilie über den weißen Händen.

Kerstin Fischer

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