Ostergeschichte

In allen Farben präsentierten sich die Schokoladenostereier in dem winzigen Schaufenster des Ladens von Dona Maria: blau, rosa, rot, weiß, lila, grün, gelb, nur nicht schwarz. Die schönsten waren so riesig, dass das kleine dunkelhäutige Mädchen sie nicht in einer Hand halten konnte. Die kleinen Eier aber waren so groß wie das Hühnerei, das sie morgens noch ganz warm aus dem Stall geholt hatte. Es schmeckte gut, vor allem als Spiegelei mit einem Dotter, der so glänzte wie die Mittagssonne.

Das kleine Mädchen lachte das große in Gelb eingepackte Ei im Schaufenster an, wo sie auf dem Rückweg von der Schule vorbeikam. Morgens um sieben, wenn sie zur Schule ging, waren die Ostereier hinter einem Rollladen versteckt. Wenn der Unterricht beendet war, rannte das Mädchen aus der Schule, damit sie mehr Zeit hatte, ihr Osterei zu betrachten, bevor das Geschäft zur Mittagspause schloss. Die alte Ladenbesitzerin mit dem strengen Gesicht fragte nicht, ob das Mädchen etwas wollte. Von draußen konnte niemand die Eier stehlen, denn sie standen hinter einem Glasfenster, so dass nur Dona Maria sie mit ihrer großen Hand erreichen konnte. Das Mädchen ging weiter. Die Mutter wartete auf sie, um ihr ein Spiegelei zu braten.

„Hast du wieder vor dem Schaufenster gestanden?“ Das Mädchen ließ sich auf den Küchenstuhl fallen und nickte. Die Mutter stellte einen Teller vor sie auf den Tisch. Der Dampf von Reis und schwarzen Bohnen stieg ihr ins Gesicht. Die Pfanne mit dem heißen Fett stand auf dem Herd. Die Mutter nahm ein Ei aus einem Korb der wie ein Huhn geformt war. Da rief das Mädchen: „Nein, Mama! Bitte nicht!“ „Was? Willst du heute kein Spiegelei?“ „Doch, aber ich könnte stattdessen jeden Tag ein Ei verkaufen. Es sind noch drei Wochen bis Ostern.“ „Ja, aber mit dem Geld könntest du gerade einmal ein Ei so groß wie eine Kirsche kaufen.“ Die Mutter hielt das Ei in der Hand. „Wem willst du es denn verkaufen?“ Das Mädchen ließ den Kopf sinken.

Am folgenden Tag holte das Mädchen ein Ei aus dem Stall, wickelte es sorgfältig in Brotpapier und nahm es in ihrem Ranzen mit zur Schule. Als es zur Pause schellte, wartete sie, bis ihre Mittschüler fort waren. Dann ging sie zum Lehrertisch und blieb stehen. Die Lehrerin saß dort und schrieb konzentriert im Klassenbuch. Nachdem sie das Buch geschlossen hatte, berührte das Mädchen die linke Hand der Frau, legte das ausgepackte Ei hinein und blieb wortlos stehen. „Ah! Meine Liebe!“, sagte die Lehrerin und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Eilig lief das Mädchen hinaus. So geschah es jeden Tag in der Pause. Das Mädchen blieb sitzen und wartete, bis alle Mitschüler den Raum verlassen hatten, holte ein Ei aus ihrem Ranzen, ging zum Lehrertisch, blieb stehen und hielt es der Lehrerin wortlos hin.

Am Mittwoch vor Ostern bekam die Lehrerin das letzte Ei. Wie immer bedankte sie sich mit einem Kuss auf die Wange, und das Mädchen verschwand still in die Pause.

Nach der Schule blieb sie wieder am Ostereierfenster stehen. Es standen nur noch ganz wenige Eier dort, aber ihr gelbes Schokoladenei glänzte wie die Sonne.

„Hast du schon das Geld für dein Osterei?“ „Nein, Mama. Meine Lehrerin hat mir noch nichts bezahlt.“ Sanft klopfte ihr die Mutter auf die Brust. Aus dem Teller stieg der Dampf von Reis und schwarzen Bohnen dem Mädchen ins Gesicht. Sie aß schweigend.

Am Ostersonntag Morgen, als das Mädchen die Küche betrat, stand ein großes eiförmiges Gebilde, glänzend wie die Sonne, auf dem Tisch. Die Ananasblätter schauten aus der Verpackung heraus.

Am ersten Schultag nach Ostern, als die Kinder in die Pause gingen, blieb das Mädchen sitzen. Die Lehrerin schrieb etwas ins Klassenbuch. Dann holte sie unter ihrem Tisch eine große Papiertüte hervor, lief zu dem Mädchen und überreichte sie ihr. Das Mädchen musste aufstehen, um das Köpfchen in die Tüte stecken zu können. Sie entnahm ihr ein in Gelb eingepacktes Schokoladenei.  Es war so groß wie eine Ananas.

Elvira Santos

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