Tag der Toten

Die Musiker drücken sich aneinander, um eine Gruppe Passanten vorbeizulassen. Der Pfad, auf dem sie stehen, ist schmal, eigentlich zu schmal, aber es gibt keine andere Möglichkeit, keinen anderen Platz, der es ihnen erlaubt ihre Lieder vorzutragen. Sie versuchen sich nicht von der Enge beirren zu lassen, die Passanten geben sich Mühe, nicht gegen sie zu stoßen. Trotzdem ist es schwer auf so kleinem Raum zu spielen. Hin und wieder treffen Ellbogen aufeinander, werden Entschuldigungen gehaucht und verlegene Blicke getauscht. Die Trompeten hätten gern mehr Freiheit, ebenso die dickbäuchige Gitarre mit ihren großzügigen Rundungen. Die Musiker erdulden die Unannehmlichkeiten, indem sie die Augen schließen oder in die Ferne schauen, während sie ihre Instrumente spielen. Sie geben sich Mühe, die Enge nicht zu bemerken, sie nicht zu sehen. Gemeinsam mit der Musik fliegen ihre Blicke Über die Köpfe der Leute, nur ihre Körper lassen sie zurück in der Menge. Auf diese Art ist es leichter, so können sie besser in die Lieder eintauchen und das Gedränge ignorieren. Nur der Sänger hat mehr Platz, an ihn trauen sich die Leute nicht so nah heran. Er muss seine Arme bewegen können, wenn es dramatisch wird, muss einen Schritt vor oder zurück machen können, wenn ihn die Emotionen Übermannen. Darin will ihn niemand stören.

Der Fluss der Passanten nimmt kein Ende, es wimmelt um die Musiker wie in einem Ameisenhaufen, es kommen immer mehr Besucher und niemand scheint zu gehen. Die meisten verbringen den gesamten Nachmittag und Abend hier, bringen ausreichend Verpflegung mit. Manch einer trägt einen ausklappbaren Hocker unter dem Arm.

Die Trompeten erklingen. Mehrere Leute drehen sich nach ihnen um. Sie sind laut und schrill, Übertönen die anderen Instrumente, den Lärm der angrenzenden Straße und das Gerede der Massen.

An diesem Tag sitzen die Vögel weder auf den Mauern noch in den Bäumen. Sie warten auf den kahlen Feldern, bis es ruhiger wird und sie zurückkehren können. Die Bäume stehen starr und dürr dabei, ihre Äste leer. Der Wind mag sie nicht schaukeln oder beugen, er lässt sie ungestört zusehen. Außerdem fürchtet er sich ein bisschen, wagt es nicht, sich in das Durcheinander einzumischen oder die Leute wegzutragen.

Die Menschen liegen sich in den Armen, klopfen sich auf die Schultern, drücken sich aneinander. Gemeinsam erinnern sie sich, graben alte Geschichten hervor, um sie noch einmal zu erleben mit denen, die darin vorkommen. Noch einmal zusammen sein. Noch einmal das Vergangene mit dem traurigen Jetzt vertauschen. Mut sprechen sie einander zu, jemand macht einen Witz, weil mit Spaß alles leichter zu ertragen ist. So mischt sich Lachen in die Trauer. Schön und schaurig ist die Welt auf dem Friedhof.

Der Sänger gibt den Ton an, mit fester Stimme und großer Brust singt er Über die Mühen der Hinterbliebenen. Wie sie ihren Alltag neu besorgen, versuchen das leere Haus zu füllen und beim Essen einen Teller weniger auf den Tisch stellen. Wie sie die Toten nicht vergessen und doch vergessen müssen. Es schmerzt, trotzdem geht es weiter. Seine Stimme gibt Hoffnung, ihre Kraft hält für einen Moment alles zusammen und lässt die Leute aufatmen. Ein alter Mann kann sich im Gedränge nicht auf seinen Gehstock stützen, er verliert das Gleichgewicht und stößt gegen die dickbäuchige Gitarre. Schrille Töne mischen sich unter die Musik, aber sogleich helfen zwei hochgewachsene, junge Burschen dem Alten, ziehen ihn in ihre Mitte, weg von den Musikern und ihren Instrumenten, entschuldigen sich mit einem Grinsen und einem Lob für die Lieder, die bestens zum Tag der Toten passen.

Die Hände meiner Schwägerin greifen mich bei der Häfte, wollen mich zu der Musik bewegen. Sie möchte tanzen oder eine Polonaise anfangen. Das überrascht mich, starr wie ein Stein bleibe ich stehen und schaue sie an. Das habe ich nicht erwartet. Es scheint mir der falsche Ort, die falsche Situation für einen Tanz zu sein. Verwundert blicke ich in ihr hübsches Gesicht. Ihre Augen sind rot, glasig. Sie hat viel geweint, ist erschöpft vom Singen und den vielen Umarmungen, die nicht aufhören wollen und mit jedem Mal schwerer werden. Ihr Blick verrät Müdigkeit, aber sie gibt sich Mühe, zieht den Mund breit und hoch zum Grinsen. Keine Traurigkeit, keine Erschöpfung. Zwischen fröhlich und traurig kann man wählen oder es zumindest versuchen. Sie lacht kurz auf, greift in einen Rucksack, der auf dem Boden steht, und holt eine neue Flasche hervor. Ich lache auch.

Mehr Tequila!, Auf unseren Großvater!, Auf unsere Großmutter!, ruft sie und stößt ein Glas hinunter, dann legt sie einen Arm um mich, dreht ihr Gesicht weg von ihrem Mann, der zu uns hinüberschaut. Ich halte ihr mein Glas vor und sie fällt es mit Tequila auf. Sie hat schon zu viel getrunken, aber heute trinken alle zu viel. Wer nicht trinkt, hat kein Herz. Man kann nur zu wenig, aber nicht zu viel trinken. Auf dem Boden zwischen den Gräbern liegen die leeren Flaschen. Noch einen Schluck! Auch die Toten wollen trinken, auch sie freuen sich, dass wir alle zusammenkommen.

Kräftig ertönen die Stimmen der Mariachi-Musiker. Sie ziehen die Worte bis zur Unkenntlichkeit lang, im nächsten Moment können sie reißen und alle Umstehenden niederbrechen. Das Kreischen eines Hahns ist von jenseits zu hören, von der anderen Seite der Friedhofsmauer. Am Grab neben uns weint, schluchzt eine Großfamilie. Insgesamt vierzehn Personen. Jeder stellt Blumen und Kerzen auf das Grab, damit es schön leuchtet. Der weiße Stein ragt hervor, ruhig und standhaft inmitten der grellen Farben und Töne.

Mein Vater Pedro Páramo trank viel und schlug meine Mutter, flüstert meine Schwägerin in mein Ohr. Ihr Mann schaut noch immer zu uns hinüber, drückt die Augen zusammen und verzieht den Mund. Sie umarmt mich. Ich habe ihn trotzdem geliebt und vermisse ihn schrecklich, sagt sie und legt ihren Kopf auf meine Schulter.

Die Trompeten krachen erneut durch die Luft. Die Mariachis schreien auf, wir fallen ein. Für einen Moment vibriert die Luft in der Lunge zusammen mit der Luft über den Gräbern. Sie ist kalt, schmerzt und belebt. Ein Stechen in der Brust drängt hinaus, die Geige zieht es lang, die Trompeten ziehen es fort. Es werden Blumen in die Luft geworfen, die Blumen der Toten, ihre Blüten brechen in der Luft auseinander, gehen gelb orange auf uns nieder.

Sei nicht so ernst, nimm noch einen Schluck und bring nächstes Mal deine Verwandten mit, wir wollen mit ihnen singen und feiern. Der Tequila brennt in mir, in meinem Mund und Hals, in meinem leeren Magen und leerem Kopf. Warm und matt ist er. Ich schaue mich um, will sehen, wer mir zuredet. Aber niemand beachtet mich, niemand spricht mit mir. Mir ist schwindelig, deshalb atme ich kräftig ein und aus, versuche an nichts zu denken. Mein Magen knurrt. Nimm die Hand von meiner Tochter, sie ist verheiratet, sagt er, oder ich bringe dich um.

Die dickbäuchige Gitarre setzt ein, gesellt sich zu den Trompeten und versucht etwas Ruhe zu verbreiten, versucht die Wogen der Aufregung zu glätten, aber die Stimme des Sängers überschlägt sich im Angesicht der Trauer und macht alle Bemühungen der Gitarre zunichte. Mit ungestümer Hingabe wirft der Sänger die Arme in die Höhe, lässt sie wie Luftschlangen umherfliegen. Seine Augen sind geschlossen, sein Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse. Mit den Armen will er die Welt umarmen oder befreien. Dabei schlägt er einer dicken Frau ins Gesicht, die zu nah bei ihm steht und sich nicht vor ihm in Acht nimmt. Die Dicke ist wütend, will sich beschweren, will den Sänger anschreien und an seinem glänzenden Anzug ziehen, aber niemand beachtet sie und so wird sie im Strom der Menge einfach hinweg getragen.

Feuerwerk mit viel Krawall und Rauch donnert über uns und für einen Moment hört man die Mariachis nicht, man zuckt zusammen und schaut um sich. Die Mütter, Töchter, Witwen heulen wie Verrückte, die Männer jammern und trinken, als müssten sie sich in die Gräber legen und dürften sich nie wieder gehen lassen. Der Wind ist noch stiller als zuvor, erschrocken wie ein kleines Kind.

Friedrich Bastian

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