Das Lied

Litauische Begegnungen 

Weit bist du gefahren. Ermüdend ist es gewesen. Monate hatten sie früher zu dieser Reise gebraucht und auf dem dunklen Weg durch die Berge, unendlichen Wälder und Sümpfe war Mindaugas´ Krone in andere Hände geraten! Nie hatte sie ihn erreicht. Die fremde Obrigkeit residierte fern von ihm. Auch Obrigkeiten halten Kronen nicht sicher in ihren Händen. Und du weißt: manches Mal wirst du ausgezeichnet, weil gerade du die Auszeichnung nicht bekommen solltest.

Behände trägt dich die Autobahn über die Landschaft dahin. Ein aufgeschlagenes Buch ist die Landschaft dir. Es lässt sich lesen und spricht in deiner Sprache zu dir. Auf tausend und abertausend Fragen antwortet es dir – nur die Fragen musst du ihr stellen. Wie gut, dass du die Buchstaben des großen Lebens beherrschst!

Du siehst, du erkennst und du liebst die Landschaft, du möchtest sie betreten, in ihr weilen. Du möchtest sie in dich aufnehmen, du möchtest dich ausgelassen wie ein Pferd auf dem Rücken über den Erdboden rollen, alle Viere gegen den Himmel strecken und blicklos in den weiten Himmel schauen. Dich einfach ziellos dem Leben hingeben! Doch die Pflicht des Tages bindet dir einen straffen, einen engen Zaum. Du bist zu schwach, dein Leben zu gestalten. Du bist ein Sandkorn im übermächtigen Alltagsbau, du fühlst dich wert und auch gebraucht. Immer wieder wird dir klar, für deine eigenen Ziele bist du allein zu schwach. Was wärest du, wenn du dich nicht befehlen ließest?

Schuldig hältst du deinen Wagen an, steigst aus, um inniger mit der Landschaft zu sein. Sie nimmt dich auf. Sie bewirtet dich. Es ist Abend geworden. Ruhig schaust du über das schweigende Land. In die weite, weite Ferne, an den Horizont ziehen dich deine Augen. Ach, könntest du erfassen, was alles in dieser Landschaft ruht! Jahrtausende gestaltetes Leben, reine, bewahrte Natur! Der Mensch – ein Teil von ihr. Könntest du über der Landschaft schweben, einfach Stunde um Stunde über ihr schweben! Dich auf die Erde niedersetzen und dich einfach wieder über die weite Landschaft erheben! Hat der Mensch dieses Sehnen nicht den Göttern geschenkt? Bewahrt er das eigene himmelwärts Schweben nicht für das Ende seines Lebens auf? Ach, könntest du diesen Moment mit nach Hause nehmen und noch lange, lange von ihm zehren! Das fremde Land ruft dich deutlich zum Ursprung, zum Wesen deines Lebens zurück. Wir heiligen das Leben, wir sehnen uns, es zu begreifen. Ja, das Leben – nicht seine Organisation, seine Verwaltung. Die ruhige Großartigkeit der Landschaft führt deine Seele zu innerer Einkehr. Du lauschst in das Leben, in die unermessliche Zeit hinein. Du möchtest begreifen, was dir die Stille verrät. Du bist dem ängstlichen, selbstgefälligen Geschrei der Gegenwärtigen entwichen. Du lässt dir von ihrem Heucheln dein Trachten nach dem tieferen Sinn des Lebens nicht ersticken.

Du senkst dein Haupt. Du kehrst zu deinem Auto zurück. Du musst! Das reale Leben fordert seinen Preis von dir. Du musst gehorchen. Du hast dich dem Leben verpflichtet. Du musst weiter fahren. Die Landschaft streicht im Abendlicht vorüber und verabschiedet einen weiteren Tag. Wie viele werden es noch sein, werden noch auf dich warten? Einerlei. Du bist dir gewiss, irgendwann führt dich das Leben noch einmal hierher. Du wirst den Wanderpfad betreten, durch Wälder, Felder, Dörfer, Landschaft ziehen, in den Holzhäusern schlafen, der fremden Sprache lauschen, nichts verstehen, doch dich aufgenommen fühlen, ohnmächtig träumen, frei von deinem dir eingebrockten Leben. Du willst Leben und Landschaft genießen. Aber wann? Wann wird das werden? Weshalb führt dich das Leben hierher? Weshalb spricht es dich hier so innig an? Was du dir heute nicht erfüllst, wirst du später nie erreichen! Du zwingst dein Auto an den Straßenrand, lässt es stehen und wieder zieht dein Blick über das weite schweigende Land, in dem ungesehen Menschen leben. Ein unglaublicher Friede umfängt dich. Deine Andacht gehört dem Leben. Natur und Mensch sind unbegreiflich schön!

Und da! Horch! Ein Lied! Ein fernes, leises Lied löst dich aus tiefer Betrachtung! Es kommt auf dich zu. Es gesellt der Landschaft einen Menschen zu. Sacht´ schwebt es über das weite, stille Land. Es erreicht dich, zieht an dir vorüber in die abendliche Ferne hinein. In dich und in die schweigende Landschaft wolltest du hineinhören, doch dich trifft ein menschliches Lied! Es tritt zu dir, tritt an dich heran. Erklingt es wirklich? Hat es deine Phantasie in diese Landschaft gesetzt? Du schaust in das flache, unermesslich weite Tal, das alles fasst, den Wald, das Wasser, die Wiesen, das Haus… Du erkennst seine Grenzen nicht. Es zieht sich hin, unendlich weit. Und du lauschst. Ein Mensch! Ein Mensch ist in deiner Nähe. Er ruft in die freie Welt hinaus. Er kennt, er versteht sie. Er schreit nicht. Er singt. Er verlangt nichts, von keinem verlangt er etwas. Er gibt uns ab von seinem Dank, seiner Sehnsucht, seinem Werk, seiner Seele, seinem Gefühl. Er meldet sich. Er ist hier zu Haus. Er gibt sich zu erkennen, all denen, die eine Stimme suchen, die seine Stimme – die ihn – achten wollen. Mag seine Stimme auch den erreichen, dem sie hilft! Ein Herz hatte nach einem Lied gegriffen, eine Stimme gab ihm den Ton, ein Mund hat es geformt und geduldig zieht es durch das Land. Für das Leben singt der Mensch sein Lied. Zeitlos, ziellos gewinnt es die geheimnisvolle, die nur geahnte Welt. Es zieht vorbei an Blatt und Raute, an Stein und Hügel. Es sucht nach Ohren, sucht nach den Seelen, die auf eine Stimme warten, die es aufnehmen werden. Es sucht nach Herzen, die sich mit ihm verbünden, sich verstanden, sich bei ihm zu Hause wissen. Auch du nimmst es an, nimmst es auf, nimmst es mit. Es führt dich zum Feuer in der feuchten, kühlen Nacht, zu den Tänzen, zu den Sprüngen über die lodernden Scheite, zum letzten Schluck im Becher, den du dem Feuer schenktest: es möge sich an dich erinnern und dich immer wieder erwärmen! Der Mensch hat sich das Lied erschaffen. Der Natur schenkt er es aus Dankbarkeit für sein Leben, als innigen Zeugen für sein Leben in der Landschaft. Wessen Brot du isst, dessen Lied singst du! Darf es das Lied deiner Landschaft sein? Oder singst du das Lied deines Herren? Zu Menschen führt dich das Lied, zu Menschen, die sich – wie du – den Tag erarbeiten und sinnen und träumen. Ein jeder braucht sein Lied. Du singst es aus Dankbarkeit, aus Freude, aus Trauer, aus Übermut. Du darfst es überziehen, wie den in Holz gegrabenen Menschen. Zur intellektuellen Fratze darfst du es verzerren. Dein Lied verrät dich.

Noch immer schwebt das Lied – die Daina – suchend durch das flache Land. Kein Berg, kein Felsen versperrt ihm den Weg. Eine Daina kannst du nicht im Rundfunk senden, nicht im Konzertsaal hören. Der Landschaft gehört sie an. Die Landschaft ist ihre Heimat. Hier wurde sie geboren, hier ist sie zu Haus und hier breitet sie ihre Schwingen aus. Hier kannst du sie erleben. Beim Gesang der Daina wird das Kind der Landschaft geboren. Es summt sie mit, es stimmt sie an und mit ihr auf den Lippen wird es als Greis versterben. Hier tritt die Daina in das Herz der Menschen und gedeiht, wie die prächtige Pflanze und das vitale Tier. Hier hat sie ihren Boden, ihr Wasser, ihr Klima, ihre Luft und hier findet sie den Menschen, mit dem sie zusammenleben will. Und hier, wo sie zu Hause ist, wo sie in aller Herzen lebt, darfst du sie heute hören! Unerwartet reich hat das Schicksal dich beschenkt! Das Lied der Landschaft hat dich eingeladen, seine Menschen zu verstehen, zu begreifen. Es anzunehmen wird deine Freiheit sein. Du bist nicht allein Körper und Stimme, du bist auch Herz und Seele. Du hast deine Landschaft, deine Heimat, dein Wort, dein Lied, deine Literatur, dein Leben und noch so viel Eigenes mehr und lauschst nun der fremden Stimme. Sie führt dich in ihr Haus, in das Herz eines fremden Menschen. Ihre Heimat ist deine Fremde. Du gehst auf sie zu, gehst mit ihr mit. Du folgst ihr und trittst tief in ihre fremde Menschlichkeit ein, die dir deine zivilisierte Gegenwart zu verstecken trachtet. Hier bist du innig mit ihr zusammen, seid ihr gemeinsam in der großartigen Natur unserer Welt. Der Mensch trägt die Werte der Welt und des Lebens in sich. Auch du darfst sie in dir tragen. Du malst dir die Welt und das Leben nach deinem Vermögen, als Bild, als Lied, als Text, als Idee. Du darfst all das besitzen, was du dir aus Welt und Leben erschaffst. Sorgsam hat deine Seele aus dem unerschöpflichen Angebot gewählt und sie wählt noch immer, sucht, solange sie dazu fähig bleibt. Mehr nicht, sie sucht. Wird es reichen, dich durch das Leben zu geleiten? Wird es reichen, auch das Leben der Deinen reicher zu machen? Die Daina hatte dich gerufen, dich zu besinnen. Sie wird dir verklingen, doch unverdrossen wird die in Holz geschnitzte Hochzeitsgesellschaft in das reiche Tal des Lebens schauen. Du wirst dich neben sie stellen, mit ihr die Daina hören und mit ihr in das schweigende Tal blicken. Nein, du hast kein Lied geraubt! Du hast erlebt und angenommen, was du so innig-emsig gesucht, wozu dich dein Leben über die Erde treibt. Die Stimme eines Menschen, eines unbekannten Menschen wird bei dir sein, wird dir Vertrauen geben, dich lebenslang über die Erde begleiten und dir auch in der Ewigkeit zur Seite stehen. Mag deine Seele die Stimme so gut verwahren, dass sie dich zu und unter denen führen wird, die dir die Welt schon vor deinem Leben gestaltet hatten. Mag sie dir Zugang zu ihren Seelen bieten! Und du lauschst. Noch immer schwebt die Daina über das Land, einfühlsam, beherrschend, fragend, bescheiden. Sie hat Seele und Stimme zueinander geführt. Oh, hätte doch ein Mensch dem anderen niemals ein falsches Wort, eine falsche Seele, ein falsches Herz anerzogen! Oh, wäre das Lied, wäre die Musik die einigende Religion aller Menschen geblieben! Hätte es statt der Söldner unsere Grenzen überschritten!

Das Leben zu spüren hattest du die Einsamkeit gesucht, hattest du die bequeme Hölle verlassen. Es ist eines Tages Abend. Wehmütig und getragen, ernst und voller stiller, sanfter Kraft schweben die Lieder über das Land. Doch schon bald arbeiten die Menschen am nächsten Tag, lassen Werkzeug und Kommandos erklingen und auch dann noch liegen die Töne der Dainas über dem Land, umhüllen es bis zum freien Abend hin. Voller sorgendem Optimismus werden sie wieder einsetzen. Sie, die Gesänge des Lebens, aus seiner Härte und Not geboren, seine Größe und Zuversicht verkündend, ein Bekenntnis zu Land, zu Landschaft, Volk und jahrhundertealtem Leben, dauerhaft verehrte Kunst. Ein Lied trägt seinen eigenen Charakter. Ein krisenfester Reichtum ist den Menschen die Musik. Du verstehst den Sänger, nicht seine Sprache. Schweigend hörst du ihm zu. Lass ihn die Seelen der Menschen aller Welt verbinden!

Dankbar lauschst du noch immer der Stimme. Der Stimme eines Menschen. Du weißt, er steht bei dir. Weshalb solltest du ihm nicht folgen, mit ihm zusammen durch die morgenfeuchten Wiesen gehen, die ganze weite Welt durchschreiten, zu anderen Menschen gelangen? Unglaublich viele gute, schöne Stimmen hat die Welt gehört. Nimm diese lebende für sie alle an!

Und wieder trägt dich dein Auto durch das Land. Du hast die Fenster geschlossen. Die Nachtluft ist zu kühl. Vorbereitete Straßen weisen dir den Weg zu deinem Ziel. Die fremden Lieder begleiten dich durch die Nacht. Sehnsüchtig schweben sie über das weite, ebene Land, ernst, getragen, dem Leben gewidmet, Seelen verbindend, dem Lebenswillen verpflichtet, stille, starke, natürliche Freude entzündend. Wie Nebelbänke legen sie sich schützend über das Tal. Im zuversichtlichen Einklang erlebst du die Stimmen nebeneinander, erhabener, ehrlicher, wahrhafter als die Töne unserer Zeit. Das Wort vermag Gesang nicht zu ersetzen. So will ich schweigen und dankbar dem Erlebten lauschen.

 Du stehst im Leben. Es gibt dir Aufgabe und Brot. Zu leben und sich zu entwickeln, fordert die Natur von Pflanze, Tier und Landschaft und sie alle erproben seit Jahrmillionen, dem zu folgen. Auch der Mensch tut es. Und unverdrossen führt dich dein Auto durch die fremde Nacht an deinen altgewohnten Platz. Es ist die Welt, wie du sie siehst. Deine Blicke darfst du deiner eigenen Seele schenken. Lass sie sich ihr Bild machen, so, wie es auch die anderen tun! Doch sperre es nicht weg, vernichte es nicht ungeprüft. Wir alle sehen die Welt und das Leben nach unserem Vermögen. Sprich sie an, die ihrer Seele gestatten, zu verarbeiten, was die Augen sahen. Du findest sie unter den Dichtern, den Sängern, den Holzschnitzern und Bildhauern und allen Menschen, die sich zu diesem ihrem Vermögen bekennen. Sei dankbar, dass du als Mensch eine Seele hast und tiefer sehen kannst als auf dein Frühstück und Abendbrot, tiefer fühlen kannst, als dir deine natürliche Begierde aufträgt, sei dankbar, dass sie dir gestattet, dich aus deiner Lethargie zu erheben.

Dietmar Maetzig

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