Seine Freunde konnte er nicht fragen

Viel geblieben war nicht von Aleppo. Die meisten Gebäude zerstört. Auch seine Freunde waren weggegangen. Geflohen aus der Stadt. Oder gestorben. Geschossen wurde nicht mehr. Das war auch alles. Das Leben? Musste weitergehen. Letztes Weihnachten hatten sie in der zerstörten Kirche gefeiert. Es war kalt gewesen. Ohne Dachstuhl. Heizen hätte da nicht geholfen. Aber sie hatten gefeiert.

Sein Vater hatte Arbeit. Hatte Glück gehabt. Vater stellte immer noch Seife her.  Wenn er Olivenöl bekam. Und Lorbeer. War nicht leicht, die Sachen zu bekommen. Strom gab es wenig. Ein paar Stunden am Tag. Oft war der Strom plötzlich weg. Wasser gab es auch nicht immer. Das nervte am meisten. Das eine oder andere Haus wurde wieder aufgebaut.

Letztes Jahr hatte Jiro sich zu Weihnachten ein Stück Seife gewünscht. Was sollt er sich dieses Jahr wünschen? Seine Freunde konnte er nicht fragen. Es war kein Krieg mehr in der Stadt. War das jetzt Frieden? Sein Vater konnte es ihm nicht beantworten. Sie lebten. Sie hatten zu essen. Nicht immer. Manchmal hatte er Hunger. Eigentlich fast immer.  Wenn kein Wasser aus der Leitung kam, musste er immer Kanister schleppen.  In der Nähe gab es ein Kloster. Wenn er Hunger hatte, ging er manchmal hin. Die Schwestern hatten auch nicht viel. Doch sie gaben ihm immer etwas.

Mehl war immer knapp. Großvater würde gern mehr Brot backen. Doch sein Ofen blieb oft kalt. Holz gäbe es schon genug. Oder irgendetwas anderes zum Heizen. Doch Brot ohne Mehl konnte auch Großvater nicht backen. Süßigkeiten hatte er schon lange nicht mehr gebacken. Womit auch.  In den Geschichten von Großmutter war Jiro zuhause. Auch wenn das Elternhaus nicht mehr stand. Sie erzählte wunderschöne Geschichten, Märchen. Aleppo muss schön gewesen sein. Das Leben muss schön gewesen sein. Früher. Als es keinen Krieg gegeben hat.

Er hatte keine großen Träume.  Nachts war es jetzt immer still. Und dunkel. Schwarze Ruinenstadt. Überall zerschossene Häuser. Oft wurde er wach in der Nacht. Kroch zu Großmutter ins Bett. Liebte ihr weißes Haar. Vielleicht sollte er sie fragen, was er sich wünschen könnte zu Weihnachten. Jiro konnte lesen und schreiben. Zumindest ein bisschen. Er konnte jetzt wieder zur Schule gehen.  Es gab Container. Die Kirche war immer noch eine Ruine. Noch hatte sie keiner aufgebaut. Schnee würde es dieses Jahr wohl auch nicht geben. Großmutter erzählte ihm manchmal vom Schnee. Schnee müsste herrlich sein.

Stefan Heyer

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