Gotthilf Grünberger (1600-1668)

Ekstatische Erdung im himmlischen Ich.
Blasphemischer Gedanke in schwerer Zeit:
Dass man sich munter selbst behälfe,
nicht mehr nur, wie seit grauer Vorzeit,
altem Brauche folgend Hand anlegte –
den Mund vielmehr nähme, mitsamt der Zunge
(bifunktionales Organ, Geschmacks-
organ, Organ der Sprache)
im Zuge autonomer Bemühungen
(schwielig die Pranken, schmerzvoll aufgeplatzt
die Fingerkuppen vom Gebrauch der rauen Taue)
halbautomatisch eingesetzt zur Befriedung
kalendarisch aufstoßender Gelüste.

Inmitten von Glaubenskriegen, Hungersnöten,
allgemeiner Orientierungslosigkeit
welch konterkühnes Kunststück
unterm wachehaltenden Sternenzelt!

Gotthilf Grünberger : – o
Entdecker, Entwickler, Erfinder,
Namenspatron und Missionar
des einfachen Grünbergers;
geboren zu Speyer im Jahre des Herrn 1600
als Spross einer uralt verwurzelten Bauernfamilie;
Aussteiger, Frührentner, Selbstversorger;
Weltumsegler, Grenzgänger, Waghals,
Penispionier der ersten Stunde,
versuchte, was im feuchten Traume er gesehen,
auf zerstörten etruskischen Vasen
und pornobalkenbehandelten Höhlenmalereien –
sich ein Leben lang schon immer weiter,
immer höher hinaus vorgearbeitet habend
durch Fleiß und Schweiß,
Ausdauer und Stehvermögen,
Geschick in allen Lebenslagen;
gelenkig, sehnig, schwindelfrei,
allgemein gut ausgestattet,
gelang ihm in lauer himmelundmeerver-
schmelzender Frühsommernacht,
was mancher wohl
durchaus vor
ihm schon er-
strebte.

Umsichtiger Kaufmann, großer Generalvorsteher,
leitender Direktor eines Hamburger Handelskontors
mit weitreichenden Verbindungen tief runter ins Fuggerländle,
Junggeselle, Wunschschwiegersohn, Feierabendpoet –
alles hin-
& sich selbst in die Waagschale
geworfen,
ausgestiegen,
aufgebrochen,
drauflosgesegelt,
das Ei des Kolumbus gefunden
am neunundvierzigsten Tage
in Form zweier Eier und eines
schwellenden Schwanzes,
gelegen in einem Winkel
von einhundertundsechsundsiebzigkommazwei
Grad zwischen seinen unrasierten, nackten Schenkeln.

Von seinem eigenen Samen sich nährend,
blies er sich ostentativ durch die sieben Weltmeere,
bald weltberühmt durch simple Mund-zu-Mund-Propaganda,
eine sich selbst vorauseilende Legende der lasterhaften Leibeslust,
ein eigengliedkauendes Perpetuum Mobile onanistischer Dauerbespaßung.

Sein mit Abstand berühmtester Ausspruch
Was brauch ich andre Menschen noch,
wenn mir mein Mund das beste Loch? –,
vom Philosophen Schopenhauer
in gehobener Weinstimmung immer wieder gern
bierselig ausgepackt an Frankfurter Kaschemmentischen –
steht niedergeschrieben
in seinem penibel dokumentierenden,
bahnbrechend schrankeneinreißenden Werk
Wie ich als erster Mensch der Weltgeschichte
mir unversehens erfolgreich selbst einen blies
und darob in allgemeinen Jubelchor ausbrach

Wer ihn jemals ohne Vorwarnung
in flagranti vorübergleiten sah,
sei’s am Kap Verde, bei Bali
oder auf dem Schwarzen Meer,
wird schwerlich ihn vergessen haben.

Selbst Seeräuber machte er gefügig
ließ er einhalten in ihrem gottlosen Tagwerk –
Säbelrasseln verstummte, wo er aufkreuzte
kollabierte der Kanonenkurs,
warfen gefürchetete Männer sich zu Boden,
einzuüben den gigantischen Grünberger,
friedfertig, experimentierfreudig, fickfanatisch.

Bald allerorts beliebt und willkommen,
wo nicht grade zufällig ausgesprochene Prüderie,
allgemeine Lust- und Sinnenfeindlichkeit
ihr harsches Zepter mürrisch schwangen,
autark, autofellatiös, out of step,
lebte er, von Küste zu Küste/Eiland zu Eiland ziehend,
von den Spenden seiner zahlreicher werdenden Anhänger,
gab er heillos überlaufene Gönn-Workshops
in aller Herren Länder.

Nicht sehr wählerisch
in Geschmacksfragen;
immer bodenständig,
ein Mann des Volkes geblieben,
starb er in sternklarer Nacht,
achtundsechzigjährig,
rückenleidend,
vor der Küste Dänemarks,
im felsenfesten Glauben,
dass alle Welt vom Streit abließe,
wenn jedermann sich selber bliese.

Ein oder zwei Tage
vor seinem Dahinscheiden verfasst
sein letzter Logbucheintrag

Ich lieg an Deck am Abend gerne
und schaue auf die Himmelssterne.
Das Ziel ist nicht mehr gar so ferne,
drum streng dich, Menschheit, an und lerne!

Andreas Schumacher

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