Django Unchained (c) Sony

Was ist nun das europäische am Eurowestern, was ihn vom amerikanischen unterscheidet? Und warum entstehen plötzlich wieder gehäuft Filme eines schon totgesagten Genres? Nach Teil 1 und Teil 2 in den letzten Wochen nun der letzte Teil von Andreas Haider.

Zunächst muss ich klarstellen, dass, wenn ich vom amerikanischen Western spreche, ich den klassischen amerikanischen Western meine, wie er vom Stummfilm bis in etwa der Sechziger bestanden hat. Denn mit dem internationalen Erfolg der Italowestern veränderte sich auch der amerikanische Western. Es entstanden Spätwestern oder Antiwestern, die vieles vom Eurowestern übernommen haben. Folgende drei Hauptpunkte möchte ich (neben „filmtechnischen“ Unterschieden, wie Kameraführung, Schnitt, Musik, …) hervorheben.

Relativierung der Heldenrolle:

Besonders der Italowestern brach mit einem typischen Element des klassischen US-Western: dem Kampf zwischen Gut und Böse und dem damit verbundenen Heldenbild. Der amerikanische Westernheld ist vergleichbar mit dem edlen Ritter alter Sagen. Mit der Waffe in der Hand verteidigt er Gesetz, Ordnung und amerikanische Werte gegen den oder die Bösewichte (die oft genug keine weißen Amerikaner sondern Indianer oder Mexikaner sind). Das finale Duell ist geleichzeitig ein moralisches Statement: der Held gewinnt nicht nur, weil er schneller zieht oder besser zielt, als sein Gegenüber – er gewinnt, weil er das Gute vertritt, und das Gute dem Bösen immer überlegen ist. Es mag viel Blut geflossen sein, viele Tote und Verletzte gegeben haben, viel Unrecht geschehen sein, am Ende, wenn der Bösewicht vom Blei niedergestreckt im Sand verblutet, ist die Welt wieder in Ordnung (eine Ansicht, die nahtlos in die Ideologie der US-Waffenlobby übergeht).

Für eine Handvoll Dollar

Der „Held“ des Italowestern dagegen ist meist ein desillusionierter Zyniker. Wo der amerikanische Westernheld Unrecht wittert und versucht, dagegen vorzugehen, überlegt der Spaghettiwesternheld, wie er davon am besten profitieren könnte. Gut und Böse, Richtig und Falsch als moralische Kategorien existieren für ihn nicht. Er schreckt vor Betrug, Verrat und Verbrechen nicht zurück, um sein Ziel zu erreichen. Er wird damit zur Metapher für einen von jeglicher Moral und Ethik entfesselten Kapitalismus (siehe unten). Der Fremde in Für eine Handvoll Dollar (1964) spielt zwei Gangsterbanden gegeneinander aus, um an einen geraubten Goldschatz zu kommen, Sergio Cobuccis Django (1965) verbündet sich für einen Überfall mit einer mexikanischen Banditenbande, und stellt seinen Kumpanen kurz darauf eine tödliche Falle, um die Beute für sich alleine zu haben.

Oft sind die Helden bzw. Antihelden des Italowestern traumatisiert und desillusioniert. Ein Ereignis aus der Vergangenheit (oft in Rückblenden dargestellt), etwa der Mord an der Familie oder Erlebnisse im Amerikanischen Bürgerkrieg, hat sie aus der Bahn geworfen. Ursprünglich vielleicht sogar moralisch „gut“, haben sie dadurch ihren Glauben an die Menschheit und ihre Werte verloren. Wer in einer brutalen, zynischen Welt ohne Recht und Gesetz überleben will, muss selbst seine moralischen Werte über Bord werfen und sich diesen Gegebenheiten anpassen. Und nicht einmal die Rache bringt Gerechtigkeit oder wenigstens persönliche Befriedigung.

Kritik und Karikatur des amerikanischen Wertesystems:

Schildert der amerikanische Western den Wilden Westen als Utopie, ein Land, das nur darauf wartet, dass es von fleißigen, rechtschaffenen (und natürlich weißen) Siedlern in ein Paradies auf Erden verwandelt wird, so zeigt ihn der Italowestern als Dystopie, ein Gebiet, in dem Faustrecht, Mord und Todschlag regieren. Feiert der US-Western typisch amerikanische Werte, zeigt sie der Spaghettiwestern in ihrer Verfallserscheinung: Individualismus verkommt zum zynischen Egoismus, Freiheit zum Recht des Stärkeren, die Marktwirtschaft zur kapitalistischen Habgier, die Besiedelung des amerikanischen Westens zum expansionistischen Imperialismus. Der Umgang mit Indianern und Mexikanern wird im europäischen Western ganz klar als Rassismus kritisiert. Und der Pursiut of Happiness, das Streben nach Glück, wie es die US-Verfassung jedem Amerikaner garantiert? Wenn man auch noch so fleißig und arbeitsam ist, und sein Glück macht (indem man als Rancher erfolgreich Rinder züchtet oder als Goldsucher das Edelmetall aus einem Bergwerk kratzt) – wirklich reich werden nur die, die einem das erwirtschaftete Glück mit der Waffe in der Hand und einem Tuch vor dem Gesicht wieder wegnehmen – eine weitere Chiffre für das kapitalistische Wirtschaftssystem.

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Das zeigt sich auch in den Settings. Wo im amerikanischen Western unberührte Prärien und Wälder auf die Helden warten, gibt es im Spaghettiwestern meist nur staubige Wüste. Die Städte sind hier keine Vorposten der Zivilisation, sie sind dreckige, staubige, halb verfallene Kaffs voll Halunken und Halsabschneidern, die dem Protagonisten mit Betrug oder Gewalt ans Geld oder ans Leben wollen. Und der Hauptcharakter des Italowestern reitet nicht als strahlender, makelloser Held, sondern meist völlig verstaubt und verschmutzt, oft in zerschlissener und zerlumpter Kleidung in diesen Moloch ein. Der Verfall der Städte und das „abgefuckte“ Outfit der Protagonisten unterstreicht hier die moralische Verkommenheit des Menschen. Diese zeigt sich vor allem auch in der Brutalität der Gewaltdarstellungen. Hier wird gefoltert, vergewaltigt, in den Rücken geschossen, und zwar sowohl von den Schurken, als auch von den Helden. Kurz gesagt: eine einzige Szenerie aus Trostlosigkeit und Verfall, wie sie postapokalyptische Science-Fiction-Filme a la Mad Max nicht besser zeichnen könnten.

Verändertes Indianer-, Mexikaner-, und Frauenbild

Der amerikanische Western war die Zelluloid gewordenen Rechtfertigung für den Genozid an den nordamerikanischen Indianern. Die Ureinwohner galten das ultimativ Böse, der Inbegriff des unzivilisierten, barbarischen Untermenschen, primitive Kampfmaschinen, die nichts anderes taten, als Postkutschen zu überfallen, Farmer zu skalpieren, und unschuldige Siedlerfrauen zu entführen. Der Western zeigt den Aufstieg der amerikanischen Nation von der abtrünnigen Kolonie zur modernen Industriemacht. Um diesen „Fortschritt“ zu erreichen, mussten die, die ihm im Wege standen, eliminiert werden – die Indianer und im Südwesten auch Mexiko (das im Texanischen Unabhängigkeitskrieg von 1836 und im Mexikanischen Krieg von 1848 das Gebiet von Kalifornien bis Texas und vom Rio Grande bis Colorado an die USA verlor). Daher sind Indianer und Mexikaner – in einer beispiellosen Täter-Opfer-Umkehr – im US-Western auch die Bösewichte. Der Europäische Western, vor allem die Karl-May- und DEFA-Filme zeigten ein eher positives Bild der Ureinwohner der Neuen Welt, das oft ebenso wenig die Realität traf, wie die negative Darstellung durch den US-Western. Das Stereotyp ging hier in Richtung des „edlen Wilden“, der all das ursprünglich Gute im Menschen verkörpert, das der Europäer in Jahrtausenden einer technokratischen Zivilisation verloren hat. Erst spät drehte auch Hollywood Filme mit positiverem Indianerbild, wie Little Big Man (1970) oder Der mit dem Wolf tanzt (1990).

Little Big Man

Ähnlich erging es den Mexikanern, für die es im US-Western mehr oder weniger nur zwei Rollenmodelle gab: entweder als schurkischer, brutaler Bandit oder als besoffener Faulpelz, der unter einem Kaktus sitzend, den Sombrero tief ins Gesicht gezogen, seinen Tequilla-Rausch ausschläft. Vor allem der Italowestern zeigt hier ein anderes Bild, Mexikaner sind genauso Helden und Schurken, wie die US-Amerikaner, oft sind letztere sogar noch schlimmer, wie in Gulio Questis Töte Django (1967), wo eine Gang US-amerikanischer Banditen ihre mexikanischen Verbündeten nach einem erfolgreichen Überfall auf einen Goldtransport erst ihr eigenes Grab schaufeln lassen, und sie dann töten, und das mit rassistischen Untertönen rechtfertigen. Im Subgenre des „Revolutionswestern“, Italowestern, die zur Zeit des Freiheitskampfes gegen Kaiser Maximilian von Habsburg (1861-1867) bzw. der Mexikanischen Revolution (1910-1920) angesiedelt sind, gelten die revoltierenden Mexikaner als Chiffre für die sich gegen die Ausbeutung durch die Erste Welt zur Wehr setzende Dritte Welt – gedreht in den 1960er- und 70er Jahren unter dem Eindruck der Dekolonisierung Afrikas und des Vietnamkrieges.

Weiblichkeit im Western?

Ebenso findet sich im Eurowestern ein differenzierteres Frauenbild. Der US-Western kennt eigentlich nur zwei Extreme von Frauen: Um einen die edle, reine, gutherzige – und natürlich weiße – Siedlerfrau; und diese in ihrer allerhöchsten Vollendung als Dorfschullehrerin. Sie ist der Inbegriff der Zivilisation, das künftige Amerika. Sie ist es, die ihren Kindern (in der Familie oder in der Schule) die großartigen Werte und Errungenschaften der amerikanischen Nation lehrt, dafür benötigt sie den Schutz des weißen Mannes, der sie mit starker Hand vor Banditen und Indianern bewahrt, und mit ihr das weiße Amerika. Am Ende schafft sie es natürlich, den Helden, der sich unsterblich in die tugendhafte Schönheit verliebt, dazu zu bewegen, sein rastloses Rumtreiberleben aufzugeben, das Pferd für immer im Stall zu parken, den Colt an den Nagel zu hängen und sein Glück in Ehe und Familie zu finden – das Motiv, dass die Liebe einer Frau einen Mann verändern könne, ist ebenfalls tief in der amerikanischen Kultur verankert und schwingt auch hier mit.

Friedhof ohne Kreuze

Das andere Extrem ist die böse Frau, die Saloonhure, die rassige mexikanische Verführerin, oder die Geliebte des Banditenbosses. Sie hat das Potential, den Helden vom Pfad der Tugend abzubringen und ihn durch den Einsatz ihrer erotischen Ausstrahlung, für ihre eigenen bösen Zwecke auszunutzen. Wobei es aber auch vorkommen kann, dass der Held diese Femme Fatale mit seiner Liebe auf die gute Seite der Macht (ähh… ich meine natürlich: des Gesetztes) zieht, und sie so von ihrem abgrundtief schlechten und verwerflichen Lebenswandel rettet.

Über Prostituierte und Bürgersfrauen

Der europäische Western erscheint hier weniger stereotyp und rassistisch. Gerade im Karl-May- oder im DEFA-Film haben Indianerinnen oft tragende Rollen (z.B. Nscho-Tschi oder Apanatschi). Und auch die Siedlerfrauen machen meist mehr, als nur auf ihren Traumprinz oder ihre Rettung aus Gefahr zu warten. Sie nehmen ihr Überleben selbst in die Hand, notfalls auch mit der Waffe, wie in Frauen die durch die Hölle gehen (1966). Greifen sie nicht selbst zu Waffe, beauftragen einen Killer, für sie Gerechtigkeit oder Rache zu vollziehen z.B. in Leichen pflastern seinen Weg (1969) oder Friedhof ohne Kreuze (1968). Vor allem ist ihre Charakterisierung weit nicht so eindeutig wie im US-Westen. Die brave Bürgersfrau kann hier das schlimmste Miststück sein, etwa in Töte Django (1967), wo die Frau des Saloonbesitzers lieber das Leben ihres Stiefsohnes riskiert, als den Goldschatz ihres Mannes rauszurücken. (Wenn wir schon beim Genderaspekt sind: Questis Töte Django hatte sogar eine homosexuelle Banditenbande – 48 Jahre vor Brokeback Mountain)

The Salvation (c) Filmladen

Umgekehrt sind es gerade die Prostituierten, die obwohl verachtet und mit einem liederlichen Lebenswandel in Verbindung gebracht, das Herz am rechten Fleck haben. So sind sie es, die in Leichen pflastern seinen Weg (1969) einen erschossenen Schwarzen beerdigen oder für die hungernden Bergbewohner Nahrung spenden. Der Revolutionswestern wiederum zeigt oft Revolutionärinnen, die wie ihre männlichen Compañeros mit Patronengurt, Gewehr und Sombrero für ein freies Mexiko kämpfen – eine übrigens sehr realistische Darstellung der Mexikanischen Revolution, die verhältnismäßig viele Frauen in den Reihen der kämpfenden Truppe sah, eine Tradition die sich bis heute in lateinamerikanischen Guerillaarmeen fortsetzt.

Totgesagte leben länger

Wie ich zu Beginn dieses Kurzabrisses der Unterschiede zwischen amerikanischem und europäischem Western schon erwähnt habe, hatte der Italowestern ab den 1960er/70er-Jahren großen Einfluss auf den amerikanischen Film. Es entsandten Neo-Western, Antiwestern, Spätwestern, die die sozialkritische Sichtweise, die Relativierung der Heldenfiguren, die veränderte Sichtweise auf ethnische Minderheiten, die Kritik am US-Imperialismus usw. vom Eurowestern übernommen hatten. Wobei aber auch die Veränderungen in der Gesellschaft und Politik der USA (Bürgerrechtsbewegung, Vietnamkrieg und Antikriegsbewegung, Umweltschutzbewegung, um nur einige zu nennen) einen Einfluss auf Filme wie The Wild Bunch (1969), Little Big Man (1970), Doc (1971), Der mit dem Wolf tanzt (1990), Erbarmungslos (1992), und nicht zuletzt Django Unchained (2012) hatten.

The Hateful Eight

Obwohl man den Western schon oft totgesagt hat, ist die Westernlandschaft der letzten Zeit lebendiger als noch vor zwanzig/dreißig Jahren. Sowohl in den USA als auch in Europa und sogar in Fernost wurden in den letzten Jahren wieder Western gedreht und die Kinos gebracht. Und egal, woher die neuen Western stammten, ohne den Einfluss des Eurowestern, würden sowohl der österreichische Das finstere Tal (2014), der britische Slow West (2015), der deutsche Gold! (2013) der amerikanische The Homesman (2014) oder der koreanische The Good, the Bad and the Weird (2008) ganz anders aussehen (oder nie gedreht worden sein). Ganz zu schweigen von Filmen, die Westernelemente mit denen des Thrillers, Krimis oder Kriegsfilms verbinden, wie Kill Bill 1 und 2 (2003/2004), No Country for Old Men (2007), Inglorios Basterds (2009) oder The Guard – ein Ire sieht schwarz (2011). Und erst vor kurzem hat Quentin Tarantino den ersten Trailer seines nächsten Films The Hateful Eight veröffentlicht, für den Altmeister Ennio Morricone den Soundtrack beisteuert, und Leonardo Dicaprio wird im kommenden Winter in The Revevant als Trapper durch die amerikanischen Wälder wandern. Im Westen nichts neues? Von wegen! Adios, Compañeros, wir sehen uns im Kino!

Andreas Haider

Dies ist der letzte Teil einer kleinen Reihe – hier gibt es Teil 1 und Teil 2.