freiVERS | Noha Abdelrassoul

Ziellose Wanderung

I.

Kleine Flasche Wasser, Nutella-Glas,
andere Gegenstände, die ich von meinem Platz aus
durch die Gitter des Korbs
unter dem ledernen Sitz eines Rollators
nicht erkenne.
Eine ältere Dame sitzt gegenüber,
wartet auf den richtigen Zeitpunkt
um aufzustehen.
würde sie meine ausgestreckte Hand annehmen,
meinem Tag einen Sinn verleihen?

Ich erinnere mich
meine Großmutter bewahrte Verschiedenes
bei sich
unter dem Sessel,
den sie kaum verließ
außer während des Erdbebens 92,
da hat der Sessel sie verlassen.
Damals rief sie meine Mutter an
sprach
leise, in halb-seriösem Ton:
„Tochter, rette mich
der Sessel tanzt mir weg.“

Auch meine Mutter hat jetzt
einen Lieblingssitz.
Alltagsdinge häufen sich dort an
eine Flasche Wasser
Papiere, Telefonbuch,
Mobiltelefon, Fernbedienung,
Familienfotos, Tablettenbox und Snacks.
Ihr Sessel ist, neben der Küche,
ihr einziger Arbeitsplatz
die Ecke, die ihr gehört.

II.

Einmal bin ich mit einer Fremden mitgerannt,
es war ein Rennen,
dem ich mich wie ein Eindringling
kurz vor dem Ende anschloss.
Ich wollte den Fahrer bitten, auf sie zu warten.
Nur hatte er sie bereits im Seitenspiegel gesehen.

III.

Vor einigen Jahren,
während wir auf der Autobahn
umgeben von Wüste fuhren,
sah ich mich rennend,
dem niedrigen Himmel entrinnend
sah, dass er mich doch am Ende traf.

Ich erfinde Wettrennen, die es nicht gibt,
einen Grund loszurennen
ohne Halt und ohne Ziel.

IV.

Einmal bin ich zu dir hinüber gerannt,
nahm an dass du mich brauchst,
dass nur ich deine Angst auflösen kann,
dass ich, allein, dich ins Leben zurückrufe.

Ich dränge mich den Wegen von anderen auf,
schleiche mich in Lebensreisen hinein,
verlasse persönliche Kämpfe
und meinen Fleck
leer und kalt,
wandere weit weg
wie die Seele einer Schlafenden.

.

Noha Abdelrassoul

.

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freiTEXT | Jakob Hagen

Verlaufen lernen

Schritt 1: Genesis
du bist resultat und anfang stehen voreinanderweggenommen werden ursache und wirkung miteinander ausgetauscht wird jeder einmal mehr das leben zeichnen und du strahlensonnen häuserdächer schützen was die zukunft in sich trägt ist weit weniger als jetzt die beine voreinander schlägt und deine stimme will nicht sprechen ist der erste schritt so schmerzhaft ist der niedergang wird dir nicht schaden zu vermeiden und als elter steht man meist nur nebendran vergeht die zeit noch schöner ist das licht das dich begrüsst die morgenluft verhältnismässig warm wird es um dich ein reigen und geliebte hände die sich vor dich stellen und dir den weg geleiten

Schritt 2: Exodus
bei allem was wir lernen niemals aus ist die bedenkenlosigkeit greift um sich nichts mehr vorzumachen schliesst du dich berührt nur noch der schmerz ist allumgebend tiefer atem haltend bis du auferschrickst in deinen nächten wanderst du umher verschlagen dich gedanken wiederkehrender beglaubigung als ausweg ausgebrannt und ungeformt sich durch die rippen frisst sich die erkenntnis dass du selbst dir überlassen bist

Schritt 3: Requiem
im schmerz der dunklen nächte bist du kälte über heizungsstäben flimmern nachtmusiken ziehen durch die träume wachen schlafend über dir im glockenspiel die knochenzwischenräume flüstern leise fluchst und fühlst du dich nicht ernst genommen werden unsere fragen schallen niemals muss die antwort lauten trommeln folgen wir und weisse schwäne malen hoch erhoben wolken traumverhangen bis zur atemlosigkeit so treibt sich schweiss zu perlen tränend alles dagewesene mit sich reissend nein du warst nie mehr für mich nie mehr als staub in sonnenflecken leuchtet starr verdreht sich etwas sagen wir vergehen unter uns erhebt sich weissgewandig was dich ausgemacht hat war weit mehr als deine worte schreiben jetzt nur noch der tau zwischen den fensterscheiben kreischen wild gewordene fetzen die die welt bekleiden scherben in dir schreit und faucht der teufel pauken schlagend gegen die gesichter sprechen alles fällt mit dir wird klar dass es in deinen zeiten niemals anders war es angst gewesen die dich zähmte niemand las je deine zeilen ungelesen sich zu wasserzeichen quellen die sich schlafen legen sorgenfalten um sich werfend
es erschlägt dich
du bist nicht mehr unverwundbar
du bist kind gewesen

 

Jakob Hagen

 

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freiVERS | Nero Campanella

der fuchs

laubfarben lautlos

wie ein in den herbst gefallener

gedanke schnürt er dir ent-

gegen

ein träger pfeil

mit schnauzenspitze, ein zahn

seitlich sichtbar : scheinlächeln

neben

dem weg (wo du gehst), nicht parallel

doch gerade    wie ein steinfall    wie auf

geleisen    äquatoren    wie unbiegsames

licht – was folgt er?

so klar folgt man

weder der liebe noch dem zwang , nur

dem geflecht aus beiden : dem geschick

er

kann es wittern , noch die fernste zukunft

ist von seiner zunge feucht

man weiß nie:

hat er tollwut – oder nur methode?

.

indes sein atem dein gehör streift

wird dir fiebrig    jäh    von seinem fell

.

Nero Campanella

.

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freiTEXT | Henni-Lisette Busch

Maßnahme

Ich sehe keinen Horizont mehr, sage ich. Vor uns rollt sich in den Sand die See und krause Gischt sieht ganz kurz aus wie schaumgeschlagener Stoff, platzt und versickert. Die Wellenausläufer ziehen sich zurück in das himmelgraue Meer, das irgendwo ganz weit hinten sich vorn überwölbt und über uns rollen sich die Wolken in die Höh. Da ist kein Horizont, nur die Buhnen sind ein Strich.
Ich sehe auch keinen, sagst du. Da ist nichts in Sicht. Und aus deinem Mund klingt das nicht so, wie ich das eigentlich meinte, sondern hoffnungslos.

Immer, wenn wir uns sehen, bist du geschminkt, sind deine dichten Wimpern hochgeschwungen, ein Lidstrich gezogen und manchmal schmückt deinen unteren Wimpernkranz eine grüne oder graue dünne Puderlinie. Ich trage, wenn, dann nur Mascara und ich traue mich nicht, zu sagen, dass ich morgens keine Zeit habe zum Schminken, nicht, weil ich einen Sohn habe wie du, den du jeden Morgen manchmal mehrmals anziehst, weil er einen anderen Pullover will, den mit dem Löwen, nicht den mit den vielen kleinen Dinos drauf, oder weil er zu übermütig einen Schluck Saft nahm. Nicht, weil ich einen Sohn habe, wie du, dem du jeden Morgen Frühstück machst, zumindest ein kleines, und dann Zähne putzen und nochmal spielen und ihn dann davon überzeugen, dass seine Freunde bestimmt schon warten auf ihn im Kindergarten. Und während du durch deine Drei-Raum-Wohnung läufst von Tür zu Tür hängt an fast jeder Wand und auch am Kühlschrank ein Bild, wo ihr noch zu dritt seid, oder eins von dir und ihm, der jetzt zwar weg ist, aber immer noch der Vater deines Sohnes und immer noch jeden deiner Gedanken und jede deiner Tränen wert. Ich habe morgens keine Zeit, nicht, weil ich einen Sohn habe, wie du, den du dann um acht in den Kindergarten bringst und dann sitzt du manchmal erst um neun wieder im Auto, weil dein Sohn dich nicht gehen lassen wollte und dann musst du zur Arbeit fahren und selbst gefrühstückt hast du meistens nicht. Ich traue mich nicht zu sagen, dass ich morgens keine Zeit habe zum Schminken, weil ich geschlafen habe bis um neun und dann um zehn auf Arbeit sein muss.

Wie weit ist es wohl bis dort hinten, frage ich, und stell dir vor, du hast ein Schiff, das dich bis dorthin trägt. Ich glaube, ich würde an Bord gehen, sage ich, und Maß nehmen bis wir dort sind, wo sich das Meer vorn überwölbt. Du sagst, nein, ich nicht, aber du zögertest, lächeltest noch kurz bevor du das sagtest. Komm, wir gehen, es wird kalt und du wendest dich um und gehst. Ich sehe dir nach, deine Gestalt verschwindet, sie wird an Land geweht bis dorthin, wo sie gebraucht wird.

Immer, wenn ich dich besuche, hast du gekocht, Kartoffeln mit Schwarzwurzeln und Fischstäbchen oder Lasagne, die nicht aus Nudelplatten besteht, sondern aus dünnen Zucchinischeiben, dazu einen frischen Salat und Getränke hast du immer da, Saft, Mineralwasser und Schokomilch. Ich trinke immer nur Leitungswasser und traue mich nicht zu sagen, dass ich keine Getränke kaufe, weil mir das zu aufwändig ist. Einen Nachtisch gibt es auch jedes Mal und manchmal, bevor ich losgehe, ein Betthupferl für alle, denn dein Sohn muss ins Bett und der kann schon verhandeln. Und noch bevor ich gehe, läufst du durch deine Drei-Raum-Wohnung von Tür zu Tür und ziehst dich nebenbei schnell um, wenn dein Sohn gerade nochmal kurz spielt, legst schon das Buch bereit, das ihr euch zusammen anguckt, bevor ihr schlafen geht, schminkst deine schönen Augen ab und kündigst nebenbei immer wieder an, aber gleich geht es ins Bett, damit dein Sohn, der gerade wieder spielt mit kleinen Töpfen und Plastikobst, hoffentlich langsam müde wird. Dann gibst du mir noch Abendbrotreste in einer Tupperdose mit und dann gehe ich vorbei an all den Bildern an der Wand, wo ihr noch zu dritt seid. Hinter mir schließt du die Wohnungstür und drehst den Schlüssel zweimal um und winkst dann kurz noch aus dem Fenster, bevor du irgendwann müde in dein Kissen sinkst. Ich traue mich nicht zu sagen, dass ich keine Getränke kaufe, weil mir das zu aufwändig ist, mir aber fast jeden Tag einen Karamell Macchiato hole, bevor ich um zehn auf Arbeit bin.

Ich stelle mir vor, ich gehe auf das Schiff, dass mich dorthin trägt, wo sich das Meer vorn überwölbt. Dass ich keinen Horizont mehr sehe, heißt Lust, ihn zu übersteigen, aber ich traue mich nicht zu sagen, dass es mich in die Ferne zieht und weg aus meinem kleinen Leben, nicht, weil ich einen Sohn habe wie du und Verantwortung, die erdrückt. Du legst jeden Monat Geld zurück und hast immer noch die Spielsachen deines Sohnes von früher und die Kleidung, in die er nicht mehr passt, weil du eigentlich ein zweites Kind willst, aber den Vater dieses Kindes gibt es nur als Fotos an Wänden und der Kühlschranktür. Ich traue mich nicht zu sagen, dass es mich in die Ferne zieht und ich nicht weiß, ob ich mal Kinder will, nicht, weil ich einen Sohn habe wie du und nur mich selbst dazu, sondern weil ich Angst davor habe, das alles nicht zu schaffen.
Ich lasse das Schiff ohne mich ablegen und gehe landeinwärts hinter dir. Hinter uns rollt sich in den Sand die See und krause Gischt sieht ganz kurz aus wie schaumgeschlagener Stoff, platzt und versickert. Die Wellenausläufer ziehen sich zurück in das himmelgraue Meer, das irgendwo ganz weit hinten sich vorn überwölbt. Ich würde dir gern sagen, dass, nur weil ich keinen Horizont dort sehe, es trotzdem einen gibt für dich und bestiegen wir beide das Schiff, nähmen wir Maß, bis wir ihn erreichten und je nach Wetter und Höhe des Schiffs sind das auf offener See ungefähr 20 nautische Meilen.

 

Henni-Lisette Busch

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freiVERS | Ferenc Liebig

Das Haus. Stillstand.

(1)

Das Haus ist zu groß für einen,
der seinen Lebensbaum längst
gefällt hat, um Brennholz
für den Winter zu haben.
Aber groß wäre es auch,
wenn man nicht einsam wäre,
inmitten der Leere,
die zu jeder Jahreszeit
durch die Fenster lugt
und ihre abgenagten Kadaver
auf die Veranda legt.

(2)

Man spricht über Tiere.
Der Marder hat den Schlauch
der Scheibenwaschanlage durchgebissen,
Ein Waschbär hätte die Vorräte im Schuppen
geplündert und unter dem Dach nisten Vögel,
im Anbau zeigst du auf drei Bienenstöcke,
draußen dann sagst du,
schau mal hier, durch dieses Loch im Zaun
wäre der Fuchs hindurchgekommen
und hätte sich die Hühner geholt.
Deine Erinnerung an früher
ist wie morsches Holz.
Du puhlst darin den Staub
der Vergangenheit hervor.

(3)

Und dann ist es ruhig.
Du hast die Axt zurückgestellt,
läufst barfuß über das hüfthohe Gras,
berührst die Blütenköpfe
mit der Neugier eines Kindes.
Die Sehnsucht würde dich
am Leben halten.
Die Sehnsucht lässt dich aufstehen
und an früher denken.
Wenn der Herbst kommt,
beruhigt dich die Dunkelheit.

(4)

Das Haus ist groß,
von innen wirkt es nochmals größer,
als würde einen optischen Trick geben,
der das Äußere kleiner erscheinen lässt.
Das Haus war schon immer zu groß gewesen,
selbst als die Eltern noch lebten,
mit Decken um den Beinen,
in den letzten Sonnenstrahlen des Spätsommers.
Du sprichst von Vergebung,
Hohlräumen unter deiner Haut,
damals noch mit Berührungen befüllt,
trocknen sie nun langsam aus,
werden kleiner, drängen sich an die Knochen,
bis sie gänzlich verschwunden sind und
nur noch ein ledriger Film verbleibt.

(5)

Durch die Wälder treibt es uns,
ganz tief hinein in die seligen Schatten,
wo wir uns Läuterung versprechen
und so sind es unsere bemoosten Füße,
die hinein ins wuchernde Dickicht laufen,
sich Schneisen bahnen
durch benachbartes Grün.
Nichts vermenschlicht,
nicht einmal mehr wir,
werden nur eins dieser Geräusche,
das noch kurz widerhallt
und sich dann gänzlich niederlegt.

(6)

Du holst tief Luft, hältst die Luft
in deinen Lungen, schließt deine Augen,
atmest langsam wieder aus.
Nichts könnte dich von hier trennen.
Während du das sagst, wird dir bewusst,
wie wenig du von der Welt gesehen hast.
Gestriger Regen tropft von den Blättern.
Ein Jaulen kommt aus den Tiefen.
Du holst erneut tief Luft,
berührst dabei deinen Brustkorb.
Es riecht nach Erde.
Die Baumkronen verdecken
den Großteil des Himmels.

(7)

Im Haus ist es dunkel.
Geweihe hängen an den Wänden.
Im Schrank warten polierte Gewehre.
Auf unbehandelten Holzbrettern in der Küche
befinden sich Tassen und Gläser und ein Foto
der Eltern wurde neben ein Kruzifix befestigt,
wie sie auf einem Berg stehen,
Arm in Arm, ein angedeutetes Lächeln,
im Hintergrund Wald und Wanderer.
Da waren sie noch glücklich, sagst du,
nimmst das Bild in die Hand und
schüttelst wortlos den Kopf.

(8)

In der Bestallung gibt es ein Versteck.
Als Kind hättest du dort im Verborgenen
Gedichte geschrieben.

.

Ferenc Liebig

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freiTEXT | Thea Mantwill

Wurm

Neulich wachte meine Freundin, die in ihrer Freizeit Bäume zu fällen pflegt, neben dem Mann in ihrem Bett, das bis zu dieser Minute ebenfalls seines gewesen war, auf und stellte fest, dass sie ihn nicht wollte, nicht kannte und schon jetzt nicht vermisste. Auch über das Verrücktwerden habe ich nachgedacht und fand den finalen Frieden damit darin, dass ich es gar nicht bemerken und die Konsequenzen meiner Ver-rücktheit, ähnlich wie bei meinem Tod dann, die Umwelt tragen müsste, ja dass ich sogar die am wenigsten davon berührteste Person überhaupt wäre. Damit bin ich mehr als nur einverstanden. Außerdem fragte ich HC, was ihr Name bedeute – vor allem eine Sache ganz besonders, aber man habe leider vergessen, welche. Patricia Lockwood hat dieses unglaubliche Buch geschrieben, über das Kind und das Portal; ein winzig kleines Virus hat die Welt meinen Bedürfnissen als Soziophobikerin endlich angepasst und die ganze Verdorbenheit meines Charakters in überbordender Freude auf menschenleeren Straßen sichtbar gemacht, die ich wegen eines knittrigen Zettelchens von einer Firma zu jeder Tages- und Nachtzeit betreten durfte; mein Vater hatte im Krankenhaus pünktlich und publikumswirksam zur Visite einen Herzanfall, vor all den Ärzt:innen und war, als er im Zoom davon erzählte, von einer so unüberbrückbaren Einsamkeit umgeben, dass ich mich danach weinend mit dem Gesicht nach unten auf den guten Holzboden legte – aber nur, bis es klingelte und die Pizza kam, weil die sonst kalt geworden wäre. Was meine Welt aber wirklich zum Kippen brachte, war der Wurm an meiner Zimmerdecke.

Würmer sind nämlich nicht oben, es gibt keinen Grund und vor allem keine physiologischen Möglichkeiten für einen Wurm, sich dort aufzuhalten, das bestätigte mir später auch Google. Trotzdem war er da, in der regenreichsten Nacht dieses Sommers, die den heraufziehenden Morgen wie ein riesiges, alles umgebendes Schwimmbassin klingen ließ. Ich war um fünf Uhr aufgestanden, um genau den Zwischenraum abzupassen, in dem ich am wenigsten ich bin und trotzdem da, in dem alles mir gehört und niemand von mir weiß – die Antipode zur Blauen Stunde.

Aber der Wurm war da und zerstörte alles – meinen bis dato unerschütterlichen Glauben an die Allwissenheit des Internets und der verlorene Morgen bildeten noch den geringsten Verlust, nein, viel schlimmer, dass ich mich mit der Tatsache befassen musste, dass es einen solchen Wurm laut dem Rest der Welt (also dem Internet) nicht geben konnte und dass kein Plan, keine Morgenroutine, kein unbedingter Wille und schon gar nicht das letzte durch die Desillusionierung gerettete bisschen Disziplin mich vor Einbrüchen dieser, jener, einer anderen Welt in meine zu schützen vermag. Ich bin 14,33 mal größer und 6000 mal schwerer als dieses Lebewesen mit seinen fünf Herzpaaren in den Ringen 7-11, und trotzdem ist es einfach bei mir eingezogen.

Seine Flucht vorm eigenen Element hatte ihm wohl zu Höchstleistungen verholfen, aber das ist nur logisch: wer nicht feige ist, kann auch nicht mutig werden. Das Wasser hat er klug gewählt, und wenn ich recht überlege, sind auch Bücherwürmer wirklich gefuchst (Foxing is an age-related process of deterioration that causes spots and browning on old paper documents such as books, postage stamps, old paper money and certificates). In einem einzigen Material alles zu vereinen – das Haus, das Bett, das Mahl – liegt noch mindestens drei Level über der Schnecken-Experience (home is where my heart is). Will ich in mein Bett beißen? Zumindest wäre es nice to know, wie mein Nachtplatz und mein Zimmer schmeckt, ob es einen Zuhause-Geschmack gibt und wie man diesen erfahren kann, bevor er einem zwischen dem Gaumen und den Fingern zerrinnt wie die Zuckerwatte diesem eifrigen Waschbären auf Youtube. Übrigens noch so eine Frage, an deren Antwort Google grandios scheiterte, wenn man ihr auch durch langsames Einkreisen – wie riecht meine Nase von innen? – zumindest näher kommen kann als der Lösung des Wurmrätsels.

Offenbar brauchte es ein Würmchen, um mir meine Hilflosigkeit gegenüber der Welt und ihre Gleichgültigkeit gegenüber mir als unverrückbare Tatsachen bewusst zu machen – mit denen man sich dann plötzlich doch arrangieren kann, wenn sie auf einmal da sind. Vielleicht ist es auch eine sinnvolle Übung, sich diese Tatsachen, die Verletzlichkeit, die Furcht und die Ohnmacht gelegentlich selbst vor Augen zu führen, oder zumindest mit ihrem Auftauchen, ihrer Existenz als (bisweilen sehr ästhetischem) Riss oder rosa glänzendem, recht elegantem und kletterbegabtem Wurm zu rechnen – mit irgendeiner überraschenden, deplatzierten und besonders glitschigen Wendung des Lebens zu rechnen, oder man wacht eben eines Tages als Käfer auf, oder als größenwahnsinniger Schuhlöffel.

Vielleicht sind wir auch gar nicht imstande, die Welt um uns herum wahrzunehmen, ohne den Riss. Vielleicht macht erst dieser Fehler, eine plötzliche Öffnung, die nicht rückgängig zu machende Macke das Verhältnis der Dinge zueinander, unseren vermeintlich neutralen Blick auf die Welt, die bisher unbeachteten Dinge sichtbar, ihre und unsere Bedeutung, den bisher nicht geschätzten Wert. Wie immer glänzt alles erst so richtig in Abwesenheit.

Wie schön es ist, wieder zu lesen, nachdem man fast nichts mehr sah. Was für ein unersetzliches Gefühl, zu laufen, wenn auf einmal nicht mehr sicher ist, dass man das für immer können wird. Das erste Mal auf der Straße, unter freiem, unverbautem Himmel in frischer, schneidend kalter Luft nach einer Woche Lockdown und Atemnot. Der Mangel und der Makel als Vergrößerungsglas für die Schönheit der Wunde – was eben noch klang wie ein rotweingetränktes Altherrengedicht wird zur Erfahrung, wenn es begrenzt, und zum Kleinod, kurz bevor es zerstört wird.

Als sie das sensible und sture Herz meines Vaters wieder zusammengeflickt hatten und man wieder reisen konnte, traf ich ihn eines Mittags zufällig auf der Straße in meinem Stadtteil. Ich hatte keine Lust mehr gehabt, zu arbeiten und daher einfach damit aufgehört, um nach Hause zu laufen. In meiner Hand trug ich, wie er, Brot und Aufstrich, er noch in Gedanken und ich in Gedanken bei ihm, meinem Besuch, der mir nun durch die helle, aber milde Sonne entgegen lief und mich nicht sah, wie ich stehen blieb vor seiner Gedankenverlorenheit, die ihm allein gehörte. Eine Verirrte in seiner Welt, eine Verwirrte, die aus einer bis in die Dreißiger geretteten kindlichen Vermessenheit und Gier bisher davon ausgegangen war, dass dieser Mensch nicht ohne sie existieren und das auch gar nicht wollen konnte, dieser Mensch, der so lange vor mir hier gewesen war und mich viel länger kannte als ich ihn, der einzige andere Mensch mit so albern winzigen Händen auf dieser Straße, in denen er wie eine Speerspitze den fleischfreien Wurstsalat vor sich trug, mit dem zuvorderst er dann in mich hinein lief.

Zärtlichkeit ist ein seltsam stilles Wort für ein Gefühl von solcher Wucht, ein Gefühl, das befürchtet (und weiß), dass er eines Tages fort sein und dieses Licht, diese Selbstvergessenheit, das leise Lächeln eines Gedankens und die Beiläufigkeit dieses gewöhnlichen besonderen Tages, an dem er mich besuchte, mitgenommen haben wird; ein Wort, das bedeutet, dass diese Straße von nun an immer ihm gehört und ich so lange wie möglich dort dankbarer Gast sein will.

 

Thea Mantwill

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freiVERS | Lorena Pircher

Blaurot

.

I. Blau

erinnerungen / erfrierungen worte an wimpern ge- / weisses feld     über mir

nachthimmel mit wundmalen / ränder austretend / nacht deckt das damals zu

dein gesicht

lider geschlossen / blass die tage

weich

dein gesicht

.

erfrierungen / erinnerungen dein sein / wunden an meinem körper

ich sitze / im weißen gras des vergangenen / zupfe deine hände von bleichen halmen

dein gesicht

der nachthimmel

austretend nässend

.

erinnerungen / erfrierungen gemeinsames leben atmet

in den begrenzungen eines damals

weich dein gesicht

.

ich trinke

gebrochenes wasser

bläuliches feld über mir

die dämmerung wund

an den rändern

.

morgen weckt das damals auf

deine arme deine beine

zähflüssig die finger lange die tage

.

sonne steht hoch

schmelzwasser meine erinnerungen

algen fische meine nahrung

gräte schmücken mein haar

weich dein gesicht

.

erinnerungen / ein fluss gebärt in seinen tiefen

unser damals

.

II. Rot

feucht meine erinnerungen / erde schluckt         dein gesicht

rötliches feld über

mir glutsonne

begrenzungen auslaufend

die ränder bluten

.

tag schürft das damals ab

dein rumpf     deine rippen

spröde die schultern

süß der schweiß

sanft die stunden

.

es keimt

gräsern         dein gesicht

gelbliches feld / über mir

fragiler horizont / abendkühle zerfleddert an den rändern

.

abend legt das damals zur ruhe

deine lippen dein haar

dein schweigen deinen namen

leise die abende

.

mond steigt

wind wacht

deine worte kühlen meine wunden

weich dein gesicht

begräbt meine erinnerungen

rot die nacht

.

stille in der begrenzung / über mir der wundhimmel

an meiner seite meine hände meine augen haare lippen rumpf arme beine

blau der morgen / rot die nacht

.

Lorena Pircher

.

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freiTEXT | Katharina Pressl

Hawaii ohne Schinken

An der Straßenbahnhaltestelle legt ein Mann den Kopf in den Nacken und stochert zwischen den hintersten Backenzähnen mit einem Schlüssel herum. Er findet etwas, holt es mit der Schlüsselspitze heraus, begutachtet die Hülse vom Maiskorn und wischt sie in die Hose. Mit der Zunge kontrolliert er, ob der Schlüssel wirklich alles herausholen konnte, was es zwischen den Zähnen herauszuholen gibt. Er schmatzt und steckt den Schlüsselbund zufrieden ein.

Die falsche Straßenbahn kommt.

Ich bin mit Josi für Pizza verabredet. Wir werden reden müssen und dabei Schwierigkeiten haben, eine Art zu finden, die nicht wie jammern und nicht wie angeben ist. Unser Gespräch wird in der Art eines Systemupdates sein, etwas, das man wegklicken will, aber noch abwarten muss, bis man zur Verwendung der eigentlichen Software kommt.

Mit Josi kommt man dort hin, mit Josi kommt man überall hin. Selbst in einen Zustand, in dem ihr Jammern ertragbar ist, besser als jedes andere frühzeitige Aufgeben aller anderen Menschen. Nach ihrem Jammern schafft Josi es in den allermeisten Fällen noch heraus, und hinein in diese goldene Zone, wo alles glänzt, wo ihr Mund eine Muschel ist und mein Ohr ein Ohr und wir, wir diskursiv am Strand liegen. Ach, Josi du softeste aller Softwares, nie würde ich dich wegklicken.

Die richtige Straßenbahn kommt und der das Leben offensichtlich ohne jegliche Furcht bestreitende Dentalhygieniker steigt ein, ohne vorher aussteigen zu lassen.

Die Türen piepsen, mein Körper will mit. Mein Körper weiß, entweder er steigt sofort ein, oder es gibt Probleme: Steigen Sie bitte nicht mehr ein, sie verzögern die Abfahrt.

Ich gehorche, steige nicht mehr ein, keine Probleme, nichts zu danken. Ins Handy tipp ich: Kann leider doch nicht kommen, tut mir voll leid, Josi.

Meine Daumen halten inne.

Ich schaue nach rechts; niemand sieht mich, Josi nicht, kein Richter, allen alles egal.

Geht mir nicht gut, schreibe ich und drehe um, meine goldenen Hauszahnstocher klimpern in der Hosentasche, ich seh mich schon aufsperren und doch zuhause sein, und stumm.

Die Straße entlang bergab trifft man immer wen von den Verrückten. Ich habe mich mit ihnen darauf geeinigt, dass, wenn ich es ausspreche wie Farugde, dann ist es losgekoppelt vom Wort verrückt und den pathologischen, abwertenden Bedeutungen. Und ich kann die Beschreibung als Beschreibung verwenden. Ich habe mich mit ihnen darauf geeinigt. Ich habe mich mit ihnen stumm darauf geeinigt, ohne sie zu fragen.

Eine der Farugdn sammelt jedes Papierstückchen auf, das auf dieser Straße liegt, speibt sich manchmal ein bisschen vorne aufs T-Shirt und sitzt bei allen Wetterlagen ohne Leggins auf der Bank bei der Bushaltestelle. Der andere Farugde bietet pantomimisch Massagen an. Auch dem Farugdn, der nie schnorrt, nie fragt er um etwas, raucht die Tschickstummel vom Boden auf.

Und es gibt noch den hübschen Farugdn.

Der hübsche Farugde trägt mal einen Blaumann von oben bis unten, einen Wintermantel im Sommer, mal Baggy-Fishbone-Hose, mal Hemd, mal Trainingsjacke mit Hornbachaufdruck. Seine Kleidungsstücke sind sauber und groß, die Haare und das Gesicht hübsch. Er geht auf und ab. An manchen Tagen murmelt er vor sich hin, als hätte er seine Farugdheit einem Film abgeschaut, und nicht umgekehrt. Sechs Jahre haben die Farugdn noch, dann ist die U-Bahn-Erweiterung fertig, ich vermute, dass sie dann hier nicht mehr, oder nicht mehr auf so gerader Linie gehen werden. Einmal in diesen nächsten sechs Jahren bekomm ich den Mut zusammen und frage den hübschen Farugdn eine Frage, ich weiß noch nicht welche.

Geht man pferdezopfig, hautcremeglänzend täglich zur exakt gleichen Zeit außer Haus, so, dass man beim Today-Shop vorbeikommt, gerade wenn der Besitzer die Kisten unter die kleinen Markisen räumt, jeden Tag gerade als er die Paprikakisten neben die Wassermelonenkisten stellt, dann ist der hübsche Farugde eine Herausforderung. Zuerst gefallen einem die Sandalen, dann fängt man an ihn zu beneiden, ihn dort zu berühren, wo der Bart grob wird. Dass er gar nicht mehr anders konnte. Dass er so entsprechend auf die Umstände reagiert. Dass seine Fähigkeiten an einem unverkäuflichen Ort liegen, von dem nur er weiß. Ob man es schaffen könnte, so sein wie er? Ob man sich in Farugde verlieben darf? Er geht auf und ab, mit sich, gibt nur das Allernotwendigste an die anderen ab. Nicht wie ein Säugling, wie ein unzufriedenes großes Tier in einer kleinen, schlecht durchlüfteten Wohnung, und wenn wer die Wohnung sieht, schütteln sie den Kopf, sagen unisono, Wohnungen seien die falschen Lebensumstände für solche Tiere. Diese kompromisslose Unzufriedenheit bekommen ich und der Supermarkt nicht hin. Jeden Tag sperren wir auf. Die Welt mag eskalieren, aber so mag der Zopf gemacht werden, das Gesicht eingecremt, die Paprika herausgeräumt. Bus noch erwischen, Wassermelone halber Kilo 6 Euro.

Josi Namen blitzt am Handybildschirm auf wie ein Schulterklopfer aus einem Paralleluniversum: Davon geht die Welt nicht unter.

Ich komme an der Post vorbei, dort steht ein Mann im Rollstuhl vor der Abholstation B. Eine Frau tritt mit einem kleinen Hund an der Leine heraus, der am Rollstuhl und am Mann schnuppert und beginnt hochzuspringen. Die Frau versucht ihn zurückzuhalten, reißt an der Leine, Güüünther. Der Mann erstarrt. Der Hund heißt Günther? Die Frau nuschelt den Beginn einer Geschichte, irgendwas mit Wer wird Millionär. Der Mann unterbricht: Ich heiß auch Günther!

Ihr Lachen macht mich hungrig. Josi mit einer Lüge abzusagen war doch farugd, farugd auf die schlechte Art. Essen muss man ohnehin, und dazu zu jammern eigentlich toll, aufnehmen, abgeben. Und wem gehts schon irgendwie. Der Zeigefinger tut dort weh, wo ich mit dem Daumennagel meine Reue über die Absage hineinsteche. Morgens zur Paprikakisten-Zeit das Haus verlassen, aber abends nicht in die Pizza-Straßenbahn einsteigen, Zahnhygienen beurteilen und selber keine machen. Benennungen durchführen, außer für sich. So geht das nicht, da ist doch – ich stolpere.

Ich stolpere über eine Weinflasche vorm Altglascontainer schräg gegenüber von der Post, ich stolpere und komme mit dem Nasenbein dort auf, wo die Flaschenhälse aufkommen, wenn man nicht ganz in das Loch trifft, und die Scherben auseinanderbersten und darunter auf den Boden fallen und den neugierigsten Volksschüler:innen am nächsten Tag in die Finger schneiden. Ich denke an ihr Blut, während meines in die runde Buntglasöffnung tropft. Ich halte meine Nase wie einen Dartpfeil senkrecht. Ist mir schwindelig, wird mir schlecht? Ist reden angeben? Ist jammern aufhören? Sind Muscheln gute Zuhörer? Sperren Schlüssel Zähne? Geht Josis Welt echt nicht unter, wenn sie Pizza Hawaii isst, ohne Schinken, und ohne mich? Welchen Namen geben die Farugdn mir?

Ich tropfe einen Blutweg bis vor die Haustür. Es gibt so einen Trick, wenn man richtig an der Haustür zieht, geht sie ohne Schlüssel auf und mit einer Hand. Mit einem Spar-Prospekt versuch ich meine Nase zu trocknen. Das Haus wird frisch ausgemalt. Die Treppe und das Geländer sind von oben bis unten in Plastikfolie eingepackt. Am Boden liegt graues Vlies, mit bunten Fäden. Die Klingel, der Lichtschalter und Türgriff sind mit Malerkrepp abgeklebt. Zu jedem vom Vlies gedämpften Schritt über die Stiege hoch halten mir die Wände dumm dumm dumm dumm dumm dumm vor. Obwohl hin und wieder ein Hund ins Stiegenhaus kackt und es keiner wegräumt, versuche ich keine Rotzblutspuren zu hinterlassen als Einstimmung auf die Vorsicht, die einem ein sehr weißer Raum abverlangt. Wo werden die Hunde dann kacken? Während es in der Nase weh tut, denke ich darüber nach, wie ich davon erzählen soll, dass es weh getan hat. Nie weiß ich, wie man spricht. Was ich schon weiß, im Rückblick wird die Chronologie von der Absage an Josi und Nasenbluten durcheinanderkommen, zuerst Glascontaineraufprall, dann erst keine Pizza.

Vors Badezimmerfenster, das zum Gang hingeht, ist eine Plastikfolie gespannt. Gestern blieb nach dem Duschen der gesamte Dampf im Badezimmer. Ich habe mit der Nagelschere Löcher in die Folie hineingestochen. Heute war das Fenster von außen wieder mit Malerkrepp zugeklebt. Diese Genauigkeit, diesen Schutz der Scheibe vor weißen Flecken, diese Abgepacktheit wünsche ich mir. Oder verachte ich. Beides zutiefst. Selbst die Wohnungstür ist jetzt mit Plastikfolie abgeklebt. Ich steige durch einen Schlitz in die Wohnung wie ein Kind ins Trampolin. So riecht also das eigene Leben. Plus Blut. Oder minus Blut. Von der Couch schicke ich Josi ein Foto mit dem zusammengeknüllten Prospekt in meinem Gesicht. Sehr tragisch. Ich grinse. Vielleicht ist es die beste aller Möglichkeiten. Vielleicht geht es nicht besser als ausmachen und unterwegs absagen; losgehen, aber nicht weiter. Auf etwas zusteuern, dann umdrehen. Turnier ohne Finale. Farugde ohne Heilung. Und Hawaii ohne Schinken für Josi allein.

 

Katharina Pressl

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freiVERS | Karoline Caesar

Alt

Hüpfen außer Atem
lenkt mich manchmal davon ab
Zwei Stunden Training und Schweiß
Kicks mit langen Beinen
sehen im Spiegel gut aus
Energie überrascht mich am Sandsack
Ich möchte mich in eine Holzschulbank
mit Deckel eng über den Knien quetschen
und hingebungsvoll schreiben

Ich schreibe ewig nichts
Plötzlich ruckartig würge ich wie eine Schlange ihr Mittagessen
drei Gedichte aus mir heraus
Erleichtert
dass ich doch
ein wenig
so lebe
wie
ich
es mir vornahm
als ich noch jung war

Alt

Mit vier störte mich die Frage der Tanten nach meinem Alter
Ich starrte panisch auf den Boden
und in mir wurde alles schwarz
Ich kam zwei Wochen zu spät auf die Welt
Mein Gefühl ist ja, ich wollte nicht eher
Die Leute machen so viel Drama darum
I c h verstehe das n i c h t.
Ich hangele mich von dir zu mir
und tupfe vorsichtig und leise mein Gesichtswasser auf

Alt

Mein Magen ist nervös
und ich denke es könnte auch Krebs sein
ich habe schon so abgenommen
und möchte es dennoch nicht genau wissen.
Ich sehe meinen Pflanzen beim Aufblühen zu
und beginne zehn neue Projekte gleichzeitig.

Alt

Schon mit 17 war ich eigentlich 35
Der Rummel um Silvester und Geburtstage ist mir ein Graus.
Jetzt verzettele ich mich in alltäglichen Spülmittelfragen
Und erschrecke vor Zahlen
und Uhrwerken
Die Mechanik lebt und rennt hinter mir her!
Ich werfe Teller hinter mir auf den Weg…!

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Es ist auch einfach Trotz.

Ich bin so eine
die sich beinah ganz aufgerichtet hat
und dann innehält.

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Karoline Caesar

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freiTEXT | Lukas Leinweber

Kleine Vergehen

1.

Als unbescholtener Staatsbürger stehe ich viel zu selten in Kontakt mit der Polizei unseres Landes, wie mir an diesem Morgen an der Kreuzung in der Innenstadt auffällt. Die Ampel ist rot, aus der Seitenstraße biegen ein Haufen Autos, von der Autobahn kommend, in den Weg ein, der vor mir liegt. Ich sehe im Rückspiegel den herannahenden Transporter mit der unverkennbaren blau-silbernen Musterung. Langsam hält er auf die Kreuzung zu und lässt die letzten Meter ausrollen. Ich gucke weiter in den Rückspiegel, sehe, dass die Farbe Rot immer noch aus der Ampelanlage mahnt und fasse mir ein Herz. Wenn ich jetzt voll beschleunige und über die Kreuzung rase, dann sind sie alarmiert, das können sie nicht durchgehen lassen, sie werden, ja sie müssen mich dann verfolgen. Ich kenne mich in diesem Teil der Stadt nicht aus. Überall haben sie ein Dreißiger-Tempolimit festgelegt, wegen des Lärms, wie sie sagen. Wenn die Verkehrsbehörde der Stadt „Klimaschutz“ auf das Schild unterhalb des Dreißiger-Symbols geschrieben hätte, erschiene mir das einleuchtender. Im Augenblick pfeife ich auf Geschwindigkeitseinschränkungen. Es wird eine wilde Verfolgungsjagd werden, aber ich weiß nicht, ob ich in dieser Ausnahmesituation in der Lage sein werde, die Kontrolle über den Wagen zu behalten. Doch sind das Fragen, die ich auch während des Fahrens beantworten kann. Ich lege den Gang ein, die Start-Stopp-Funktion aktiviert den Motor, ich gebe mit durchgedrücktem Pedal kräftig Gas, denke an die beschleunigenden Spurts in den „Fast and the Furious“-Filmen, schalte schnell in den zweiten, dann in den dritten Gang, wo mein lachhaft PS-schwacher Skoda am besten anzieht und rase über die Kreuzung, direkt den anderen Autos hinterher. Das Lenkrad halte ich steif und fest umklammert, ich bohre, soweit das mit gestern schief geschnittenen Nägeln möglich ist, meine Finger regelrecht in das Leder und blicke dabei mit drastisch erhöhtem Adrenalinspiegel in den Rückspiegel, zur Vergewisserung auch noch in die beiden Seitenspiegel, die ungenügend auf meine Sitzposition eingestellt sind. Aber hinter mir tut sich nichts. Außer mir fährt keiner an. Die Autos stehen vorbildlich in Reih und Glied. Sie warten ordnungsgemäß auf das grüne Signal, selbst ohne Blitzer. Was folgt, ist kein Hupen, kein Blaulicht, erst recht keine Sirene. Der Transporter steht weiterhin hinter der Haltelinie und macht keine Anstalten, mir zu folgen. Betrübt schließe ich zu den vor mir fahrenden PKWs auf und bringe den Wagen auf dreißig Sachen.

2.

Ich laufe am Abend durch eine gering frequentierte Fußgängerpassage und wundere mich, dass mich ein weißer SUV, vermutlich ein G-Klasse-Mercedes, viel zu knapp mit überhöhter Geschwindigkeit überholen darf. Die Passage ist doch frei, ich laufe extra am Rand bei den Geschäften, damit die Radfahrer, die dem Namen nach hier ebenfalls nichts verloren haben, mit viel Platz durchfahren können. Wieso also fährt er so dicht an dem einzigen Fußgänger weit und breit vorbei? Will er der dunkelgrauen Drohung des Himmels davonfahren? Der einzige, der einen nachvollziehbaren Grund zur Beeilung hätte, weil er schnellstens nach Hause kommen will, um dem angekündigten Gewitter zu entgehen, bin ich. In diesem monströsen Gefährt sitzt man dank Herrn Faraday sicher vor Regen, Donner und Blitz. Der Wagen braust vorbei und hält ruckartig etwa sechzig Meter vor mir auf derselben Seite an. Zum Glück ist hier nichts feucht, sonst wäre ich garantiert vollgespritzt worden. Der Fahrer, ein übergewichtiger, glatzköpfiger Mann mit hellblauem Jackett, das durch seinen mediterranen Teint besonders gut zur Geltung kommt – es steht ihm ehrlich gesagt ausgezeichnet – steigt für seine Körpermasse flink aus dem Auto und hastet zu einem Eingang. Er schließt auf und verschwindet hinter den Wänden zu meiner Rechten. Die Fahrertür steht weit offen und ragt in die Mitte des gepflasterten Wegs hinein. Ich höre beim Näherkommen, dass der Motor noch läuft. Früher ein Anlass für mich, die Leute anzusprechen und sie zu fragen, warum sie den Motor laufen lassen. Ausreden, in denen sie bekräftigen, sie wollten nur eben schnell dieses oder jenes tun, ließ ich nie gelten. Man kann den Motor immer abschalten. Aber heute reagiere ich entspannter, ich bin es müde, die Menschen auf leicht zu umgehende Versäumnisse hinzuweisen. Da kommt mir ein vergnüglicher Gedanke: Ich könnte einfach in den Wagen steigen und losfahren, wenn der Mann den Zündschlüssel hat stecken lassen und davon gehe ich aus. Ich würde mit diesem benzinschluckenden Straßenpanzer losbrettern und ungehemmt durch die Stadt rasen. Muss ein geiles Gefühl sein, sich ohne schlechtes Gewissen rücksichtlos zu verhalten. Ich habe den schicken Wagen fast erreicht, bin voller Tatendrang und Entschlossenheit, wirklich einzusteigen und loszufahren, noch dazu wo ich sehe, dass es sich bei dem Laden, in dem der Mann verschwand, um ein Juweliergeschäft handelt. Meine rechte Hand hat bereits die schwarze B-Säule fest umgriffen, damit ich mich mit einem kurzen Schwung auf den Fahrersitz befördern kann. In letzter Sekunde, obwohl mein rechter Fuß bereits auf dem Einstieg steht, breche ich mein Vorhaben abrupt ab. Auf dem Beifahrersitz sitzt eine herrisch wirkende alte Dame in teuren Markenklamotten. Trotz Sonnenbrille blickt sie angewidert auf ihre Armbanduhr und direkt darauf in Richtung Ladentür. Sie hat mich bislang nicht bemerkt, obwohl ich sie anstarre und fast eingestiegen wäre. Mit dieser angsteinflößenden Vogelscheuche möchte ich meinen Lebensabend nicht verbringen – auch nicht in einer protzigen G-Klasse. Ich nehme meine Hand von der B-Säule, setze zügig den Fuß auf den Boden, drehe mich unauffällig um neunzig Grad nach links, weiche der hervorstehenden Autotür aus und laufe weiter. Im Weitergehen höre ich eine krächzende, diabolische Stimme zetern: „Was hat denn da so lange gedauert? Es könnte jemand einsteigen und losfahren, weil du immer den Schlüssel stecken lässt. Dabei bin ich völlig wehrlos und jeder sieht es.“ Ich laufe triumphierend weiter.

 

Lukas Leinweber

 

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