freiVERS | Ulla Schuh

Wannabe I-III

(versions between my 30s & 40s)

.

-I-

Ich will goldgelben Tee zum Frühstück
Ich will Häuptling sein. Ich will im Fluss baden
und in der Badewanne liegen, ohne dass die Haut schrumpelt
Ich will morgens voller Elan aus dem Bett springen
Ich will tanzen können und weniger frieren
Ich will im stillen Tal sitzen und einen Schwimmteich anlegen
Ich will geöffnete Fensterläden in Taubenblau
oder Lindgrün (lieber in Taubenblau)
Ich will, dass jemand meinen Rasen mäht
und mir über die Haare streicht
Ich will mein Kind glucksen hören und die Bienen summen
Ich will hin und wieder unangemeldeten Besuch
und einen vollen Kühlschrank
Ich will barfuß schreiben mit Blick ins Grüne
und einer Katze auf dem Schoß
Ich will ein Bett in einem hellen Zimmer
und gekalkte Wände, wie man sie früher hatte
Ich will viel Luft, viel Zeit, viel Raum für mein Leben

.

-II-

Was, wenn ich den gelben Sack
rausbringe, anstatt Häuptling
zu sein, wenn ich auf
Flachdachhäuser blicke
anstatt auf einen Schwimmteich
Wenn mein Kind am Kreisverkehr
spielt statt im grünen Gras
Wenn der Laubbläser
des Nachbarn
die Katze verscheucht
Fensterläden und Rasenmäher
rosten und mir niemand
über die Haare streicht,
– mir die Luft ausgeht,
Freiraum fehlt?

.

-III-

Heute Morgen
hat mir
mein Nachbar,
der laute
aus der 2,
einen Ableger
vor die Gartentür
gelegt:
Was
will
man
mehr?

 

 

.

Ulla Schuh

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freiVERS | Tetyana Dagovych

Die Zwei-Wände-Regel

der spielt mit den Schlangen der schreibt
Paul Celan

.

klebe die Fenster mit Tesafilm zu
damit die Scheiben nicht zerbrechen
damit mein Herz nicht zerbricht
du wirst diesen Frühling nicht sehen
aber vielleicht erleben
wenn du wirklich Glück hast
hast du die Luftalarm-App installiert
hast du? falls du
es zum Bunker nicht schaffst
lerne die Zwei-Wände-Regel
lerne sie auswendig
zwei Wände müssen sein
zwischen dir und der Rakete
am besten bei dir im Flur
dort kannst du dich aufhalten
das kann dir das Leben retten
kann aber muss es nicht
in Czernowitz geboren
wo es ruhiger als
in anderen Regionen
der gekreuzigten Ukraine
ist, Paul Celan sagte
damals damals aber heute
kommt es von der anderen Seite
der Tod ist ein Meister aus Russland
deswegen musst du die Fenster
mit Tesafilm gut zukleben
die Zwei-Wände-Regel lernen
lerne sie auswendig
ein Mann sitzt im dunklen Bunker
er spielt mit Raketen er schreibt
er will die Geschichte umschreiben
er will dich vernichten verbrennen
deine goldenen Locken Maria
dein aschenes Haar Mariupol
die Stadt tut mir weh im unteren
Bauchbereich die Gebär-
mutter ist es, die schmerzt
Maria sie wurde ermordet
in Odessa wo es so ruhig
war wie in deiner Stadt
nur ab und zu Raketen
Valeria hatte ein Baby
ein Mädchen namens Kira
sie hatte die Mutter Ludmyla
zu dritt waren sie Maria
zu dritt wurden sie ermordet
klebe ordentlich deine Fenster
mit Tesafilm zu und die Regel
die Zwei-Wände-Regel du musst
sie auswendig können
sie hat ihnen nichts geholfen
das war ein direkter Treffer
hast du die Luftalarm-App
vollkommen nutzlos war sie
in Butscha Hostomel Irpen
es tut mir weh an den Händen
es tut mir weh in der Scheide
der Staub verbrennt Atemwege
der Tod ist ein Meister er spielt
du – lern seine Spielregeln endlich!
vor allem die Zwei-Wände-Regel
den Kopf mit den Händen zudecken
nicht weinen nicht lachen nur singen
(u lusi tscherwona kalyna...*)

 

* ukrainisches Lied; von Pink Floyd wurde es als „Hey Hey Rise Up“ veröffentlicht

 

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Tetyana Dagovych

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freiVERS Spezial | Liza Wandermaler

Eine dunkle Nacht

Sonettenkranz

Die Äste des Schneeballstrauches beugten sich.
Mama, zu wem haben wir gebetet?
Wie viele deiner Kinder wird er noch wegnehmen –
der Krieg, der nicht deiner ist?

(Okean Elzy, „Nicht dein Krieg“, 2016)

.

I

In den Kirchen verglühen die Kerzen
Und die Kornfelder gehen ein.
Nur der Fallende weiß allein,
Wie Soldaten die Glieder schmerzen.

Und die Monate gehn dahin,
Warme Nächte erlösen die kalten.
„Kind, dich holen die Nachtgestalten,
Wenn du rätselst nach Zweck und Sinn.

Lass dich nicht von den Schüssen stören,
Press das Spielzeug an deine Rippen.
Bald ist wieder der Wind zu hören…“

Doch am Ende des endlosen Tags
Flüstern Söhne aus trocknen Lippen
Und die Mütter verweinen das Wachs.

.

II

Und die Mütter verweinen das Wachs
Und verbluten das Herzenseisen.
Morgen sollen die Züge entgleisen
Zu der Feier des Zick- und Zacks.

Dann zerbricht man die runden Brücken,
Alle Ellbogen, jedes Knie
Und dann zieht man so stark wie nie
In den Krieg auf den Zacken-Krücken.

Auch die Augäpfel drückt man platt,
Um nicht nochmal die Tat zu sehen,
Die man gestern begangen hat.

Und die Ältesten beten: „Pax!
Bitte lass sie im Nichts zergehen
Mit dem Nachklang des Brandgeschmacks.“

.

III

Mit dem Nachklang des Brandgeschmacks
Überschreibt man die Weltgeschichte:
Helden-Oden und Fest-Gedichte
In dem Futter des Leichensacks;

Kinder winken mit Stoff-Servietten
Dem Gespenst auf dem roten Thron;
Männer krächzen ins Mikrofon
Und versprechen, die Welt zu retten.

Diesen Film hab ich schon gesehen.
Schalt ihn aus oder spul zum Schluss!
Doch man kann ihn nicht schneller drehen

Und das Band ist nicht auszumerzen.
Schon mit einem erstickten Schuss
Lässt sich jegliche Unschuld schwärzen.

.

IV

Lässt sich jegliche Unschuld schwärzen?
Frag die Mutter am Kindesgrab.
Schau aufs brennende Dorf hinab
Mit den rauchenden Häuserkerzen.

Frag dein eigenes Spiegelbild,
Wenn du Mut hast, dich anzuschauen,
Doch das wirst du dich lang nicht trauen
Und du wünschst dir, du wärest blind.

Niemand schreibt dir und ruft dich an,
So, als seiest auch du gestorben,
Wenn dein Geist das noch immer kann.

Und du suchst nach dem Schein-Indiz
Und du flüsterst: „Wir durften doch morden…“ –
Es bezichtigt ein roter BlitZ.

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V

Es bezichtigt ein roter BlitZ –
Das zerrissene alte Wappen –
Die Bedeutung der Schulterklappen
Und die Freiheit der Selbstjustiz.

Also ziehst du die jungen Frauen
In die Zimmer mit Dämmerlicht.
Und man findet sie lange nicht,
Bis die Schneehaufen schließlich tauen.

Dann verlässt du die toten Wände,
Gibst den Kindern den letzten Rest
Und erlaubst dieser Nacht ihr Ende.

Doch der Mond ist entstellt und dunkel,
Schaut dein Werk an und beißt sich fest
An der faulenden Himmelskuppel.

.

VI

An der faulenden Himmelskuppel
Waren Sternbilder angebracht.
Jemand hat sie kaputtgemacht
Und die Nächte sind hohl und dunkel.

Und die Nächte sind kalt und leer;
Keine Fenster im Bunkerkeller.
Und die Tage sind nicht viel heller,
Ganz als gäbe es keine mehr.

Schon sind Kinder darin geboren –
Kriegeskinder der dunklen Zeit,
Zarte Irrlichter in den Mooren.

Doch das reicht nicht dem Seelenkrüppel,
Denn sein Hunger ist schwarz und weit,
Wie ein uralter Gummiknüppel.

.

VII

Wie ein uralter Gummiknüppel
Fließt der Fluss seinen schwarzen Lauf.
An den Ufern gehn Feuer auf,
Weiber sammeln das Stepp-Gestrüpp, hell

Übergeht die zersprengte Nacht
In die nächste und übernächste.
In den Trümmern der Blutpaläste
Planen Affen die nächste Schlacht,

Schlagen blindlings die Köpfe ein,
Schreien Flüche und schmeißen Steine
Und bepissen das eigne Bein.

Und vom obersten Lagersitz
Keift ihr Führer durch Brutgebeine
Vom berechtigten Grundbesitz.

.

VIII

Vom berechtigten Grundbesitz
Hast du Märchen als Kind gelesen.
Und du bist fasziniert gewesen
Von der Inschrift des Blutgranits.

Überzeugt davon, Recht zu haben,
Unbesiegbar und frei zu sein,
Tratst du stolz in die Reihen ein,
Die mit Würde und Weihe warben.

Doch nun scheint dir, man log dich an,
Denn es brennen die weißen Tücher
Und man lügt, wer den Brand begann.

„Geht das etwa schon jahrelang?“
Das bezeugen die fremden Bücher
Und es spiegelt der Klagenklang.

.

IX

Und es spiegelt der Klagenklang
Wie ein Echo die alten Lieder.
Man erholt sich und donnert wieder
Wie ein rastloser Bumerang.

Viel zu alt, um Vernunft zu erlernen,
Also geht man den alten Weg
Und bekräftigt das Sakrileg,
Um das letzte Stück Mensch zu entfernen.

Doch wie lange wird das noch gehen?
Bald fegt nur noch der stille Wind
Durch die grauen Betonalleen.

Doch solange wir hier verharren,
Wird zerstört, denn gedenk: wir sind
Jene Endzeit vor achtzig Jahren.

.

X

Jene Endzeit vor achtzig Jahren –
Der zerberstende Höllenzug –
Hat sie scheinbar noch nicht genug
Überzeugt und entsetzt. Sie fahren

Wie berauscht durch die schwarze Nacht
Ohne Bremsen und ohne Schienen,
Stur entschlossen, der Nacht zu dienen
Und dem Ding, das aus ihr erwacht.

Und, erleuchtend die Mordmission,
Zittert oben das dunkle Omen.
Man erwartet die Endstation.

„Wie lang fahren wir?“ „Nicht mehr lang…“
Man muss nur durch die Leichen kommen
An den Ufern der Zeit entlang.

.

XI

An den Ufern der Zeit entlang
Schleichen dürre Gestalten… Feuer!
Schau genauer hin. Siehst du – Feuer!
– den entkräfteten, seichten Gang?

Fest der Zombies, der Totenzug…
Und sie singen schon wieder – Feuer!
Die verschimmelten Hymnen – Feuer!
Über Schwindel und Selbstbetrug.

Und sie tanzen im Blumenmeer,
In der Mitte der Menschenherde,
Schwingen lachend das Sturmgewehr…

Und nicht weit von der Fahnenpracht
Fällt ein Mann auf die harte Erde.
Jemand schreit, es sei ausgedacht.

.

XII

Jemand schreit, es sei ausgedacht…
Und ich möchte die Welt zerfetzen,
Doch es hängt über allen Plätzen
Diese klebrige Lügen-Nacht.

Sie klebt Lider und Ohren zusammen
Und sie bindet dir Hand an Hand.
Und sie flüstert: „Verehr dein Land,
Sonst zerfleischen dich meine Flammen.“

Also sprichst du mit keiner Seele,
Untersagst dir das Telefon
Und befolgst alle Nacht-Befehle.

Und es ändert sich nichts seit Jahren:
Jemand brennt in der Nacht davon,
Jemand will nichts davon erfahren.

.

XIII

Jemand will nichts davon erfahren,
Jemand rechnet die Toten aus.
Mancher packt und verlässt sein Haus,
Um zum Höllentor hinzufahren.

Mancher fängt die Geschichten ein,
Manche schließen sich ein und weinen.
Manche wollen die Tat verneinen.
Mancher wünscht sich, im Kern zu sein.

Jemand ist nur ein kleines Kind.
Jemand denkt an die Lebensscherben.
Jemand schweigt nur und trinkt Absinth.

Jemand wünscht sich ein wenig Macht.
Einer lächelt und lässt sie sterben.
Es beginnt eine dunkle Nacht.

.

XIV

Es beginnt eine dunkle Nacht.
Man verwehrte der Sonne zu scheinen:
„Zu viel Gelb auf den blauen Leinen.“
…Also hat man sie umgebracht.

„Mama, wann sind die Monster weg?
Warum müssen wir uns verstecken?“
„Kind, dich holen die Schatten-Schrecken,
Wenn du rätselst nach Sinn und Zweck.

Lass dich nicht von den Schüssen stören.
Ihre Taschen sind einmal leer
Und der Morgen wird uns gehören…“

Doch es fröstelt in Kinderherzen
Jede Stunde ein Stückchen mehr.
In den Kirchen verglühen die Kerzen.

.

XV

In den Kirchen verglühen die Kerzen
Und die Mütter verweinen das Wachs.
Mit dem Nachklang des Brandgeschmacks
Lässt sich jegliche Unschuld schwärzen.

Es bezichtigt ein roter BlitZ
An der faulenden Himmelskuppel
Wie ein uralter Gummiknüppel
Vom berechtigten Grundbesitz.

Und es spiegelt der Klagenklang
Jene Endzeit vor achtzig Jahren
An den Ufern der Zeit entlang.

Jemand schreit, es sei ausgedacht;
Jemand will nichts davon erfahren.
Es beginnt eine dunkle Nacht.

 

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Liza Wandermaler

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freiVERS | Kameliya Taneva

bildende kunst

erster versuch: ton-
plastik. weitere schichten auf
-tragen, -kleben, -bauen. doch
jedes anständige tonmonster
muss seinen schöpfer
erwürgen.

wenn du überlebt hast,
versuchst du es erneut:
steinskulptur. du fängst an ab-
zutragen: du kratzt, du pellst alle
messgeräte vom leib des lebens weg, uhren,
metronome, navigationssysteme. du brichst
mit der überflüssigkeit, mit der über-
schwere bis ein nacktes, mageres
glück, eine handvoll groß,
deine fingerspitzen wärmt.

 

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Kameliya Taneva

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freiVERS | Ilona Häring

An einem Tag,
an dem das Hirn ein Weichteil
und
der Nacken Knochen ist,
sollte man
nicht auf das Konto schauen.

An einem Tag,
an dem nichts auf dem Konto ist,
sollte man
keine Bilanz ziehen.

An einem Tag,
an dem die Bilanz rot ist,
sollte man
schleunigst
den Hund nehmen und in den Wald stoben.

In einem Wald
mit Hund und mir
rückt das Grün das Rot ins Schwarz.
Zahlt die Luft mit Wunschgeld ein.
Baut der Baum ein Rückgrat auf.

An einem Abend im Wald
sollte man
ein warmes Feuer machen.

 

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Ilona Häring

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freiVERS | Carl Ensom

insel der möwen

ich habe deine forderungen verstanden
an die landschaft, die wilden möhren,
die disteln und die schreienden kraniche

jetzt komm und leg die ohren
auf das kissen, du willst nicht hören
wie ich die hasen rufe

dort am wasser, wo die schiffe landen
und jeden tag bringen, was die insel
nicht hergibt

so hast du mich hergebracht
hast mich in das gelbe gras gestellt
unter dunklen walnussbäumen

ich habe gelacht
selbst noch als du unter tränen
in den büschen lagst
faules obst im mund

ich hatte vergessen, wie es ist
über kreuze zu wandern
über zugefrorenes wasser
über nackte haut

jeden morgen kamst du
an das ufer, die schwingen
schwer wie blei

erst die lieder der frauen
die hier ihre männer waschen
haben deine last genommen
haben dir den magen gefüllt

ihre angst tropft aus vielen poren
auf dein fell hinab, du pickst
das salz von ihren stirnen

wie oft hast du versucht
in sie hineinzusehen?

dabei habe ich dich beobachtet
im gras, den blick starr
auf die wolken gerichtet

wir haben ihnen namen gegeben
sie haben geleuchtet
wie das rot der sonne

du wolltest wie die wolken sein
hast mich zurückgelassen
hier, wo ich deinetwegen war
auf der insel mit deinem namen

 

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Carl Ensom

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freiVERS | Lucia Baierl

8-Uhr Bus

Ein Bus gefüllt mit leeren Menschen fährt eine graue Straße hinab in eine bunte Welt
Die Dunkelheit von außen leuchtet innen im blau und gelb der Wolken hell
Schlafende Augen sind auf nichts gerichtet, das monotone Schweigen ist zu laut für ein Gespräch
Bewegt sich einer wird es übersehen,
kaum registriert, wenn einer fällt.

Kein Armbanduhrenticken weckt die Menschen, die müden Zeiger drehen sich nicht
die Zeit hat sie noch nicht eingeholt
sie wartet draußen vor dem Fenster.

Die Straße wird jetzt schmaler, die Türen springen auf und die Welt springt in den Bus
Sie schnappt sich Zwei oder Drei und frisst sie auf
dann schreit sie einmal laut durch die Lippen eines Motors oder einer Fahrradklingel,
dann sperrt der Bus sie wieder aus
die müden Augen zucken kaum.

Doch die Zeit hat sich hineingeschlichen und gelb besiegt das blau
und einer nach dem anderen flimmern die Menschen auf wie kleine Glühlampen
Denn die Straße ist zu Ende und der Bus verstirbt gemeinsam mit dem ersten Ticken der Zeit.
Er spuckt die Menschen auf die Straße und verblasst im Meer aus leeren Hüllen
Denn die Welt schreit hier noch immer und trübe Augen sind geblendet von grellen Farben

Sie blinzeln zweimal oder drei,
dann fangen sie an, sich zu bewegen,
während das grau von ihren Schultern tropft
wie Wachs von einer Kerze.

.

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Mosaik

Ich trage den Pullover meines Vaters
und denke, er weiß nicht, wer ich bin.
Er weiß nicht, dass ich in den Pullover passe
und dass ich weiß, wie man ihn richtig wäscht,
ohne dass die Wolle steif wird und anfängt zu kratzen.

Ich trage die Ohrringe meiner Mutter
und denke, sie weiß nicht, dass ich jetzt blond bin
und keine Angst mehr im Dunkeln habe
und dass ich mit ihrem Auto das Fahren gelernt habe.

Ich hänge ihr Portrait an meine Wand
und denke, ich weiß nicht mehr, wer sie ist
damals war sie Mama
Ich weiß, wie ihre Halsbeuge klingt,
und wie ihre Stimme quietscht
wenn sie Musicals singt

Heute ist sie meine Mutter
ich habe ihre Nase geerbt und ihre Pflanzen
ich fotografiere sie mit der Kamera meines Vaters
stelle das Bild auf seinen Schreibtisch
und denke, ich weiß nicht mehr, wer ich bin.

 

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Lucia Baierl

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freiVERS | Emma Joerges

[denn meine schlaflosigkeit war wieder da und ich war in der stimmung etwas schönes zu zerstören]

„alles strebt zum chaos“, sagst du
und ich will dir nicht glauben
„das ist physik“, sagst du, „das nennt man entropie“
und siehst einer wespe beim ertrinken zu
niedlich
„es ist nur eine frage der zeit dass“, sagst du
und malst eine regenbogenflagge auf dein nazi outfit
„das bist du auf deinem tshirt mit deinem tshirt“, sage ich
„sich der jupiter verflüchtigt wie parfumduft im badezimmer“, sagst du
„und wir werden über scherben laufen aber nie fakire sein“
wenn ich dich nach deiner schmerzgrenze frage sagst du 2 bis 3
ohne zu wissen dass das die splitter an meinem wunden horizont sind
und akribisch bestücke ich meine fingerkuppen mit der pinzette
bis mein daumen einem igel gleicht
„mal mir einen wal“, sage ich, aber du willst nicht, „auch keinen gestrandeten?“
„wenn ich 100 C bin und du 20 C, sind wir beide bald 60 C“, sagst du und meinst
schon eher so ne 6
„das nennt man höhere entropie“, sagst du
und mein wal wirft sich an dein sandiges ufer.

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Emma Joerges

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freiVERS | Sasha Petruk

LEICHTE NACHT

Leicht ist die Nacht
die geselchte die
ausgehangen ist
in Tüchern
auf Betten
verhungert
verstellt
hat sich nur
wer die Not
an den Mann
gebracht

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Sasha Petruk

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freiVERS | Peggy Lohse

Noch heute ins Morgen

 

Wie ein Amseljunges
zum Flugtraining
aus dem Nest purzelt,
von der Familientafel
in den nächtlichen
Regionalzug gestolpert.

Müdigkeit klebt
an den Sitzen
wie Bierspritzer
am Linoleumboden.

Minuten dehnen sich
wie Kaugummi, der sich
an Schuhsohlen festkrallt.
Sprachen blubbern
wie die Verdauung
des Festessens im Bauch.

Trägheit drückt
ein kratzendes Stirnband
ins Gesicht
beim Gähnen.

Unsichtbar rauscht
draußen der Wald
vorbei. Verdeckt.

Das Ziel versteckt
sich im Dickicht
hinter der Nacht.

Alle wollen nur:
ins Heim, ins Bett,
in Sicherheit - doch die
läuft uns davon.

Der Bummelzug jagt sie,
meint sie zu finden
an jedem Dorf-Haltepunkt.
Chipstüten knistern,
Köpfe träumen von Lagerfeuer.
Handys fragen klingelnd:
„Wo steckt ihr?“

Amseljungen schlafen jetzt,
mutig und satt,
bereit für den neuen Tag.
Der Zug rollt ihm entgegen,
fährt stetig bremsend hinein.
Wir sind noch heute im Morgen.

 

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Peggy Lohse

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