freiVERS | Nasima Razizadeh

Flucht in den Flieder

Es bebt der Baum von
zwei kleinen Körpern,
im Flieder zueinander geflohen,
die Welt in der Schale fällt zu Boden,
liegt reglos nah des Stamms und
oben, hoch oben, huschen
hinauf, hinterher, hinaus,
von Zweig zu Zweig, bis an die äußersten Zweigspitzen,
zwei kleine Körper,
meinen Händen gleich.
Meinen Händen gleich
fürchten sie nicht die Luft,
nicht das Beben,
nicht die Regung,
meinen Händen gleich
reizen sie die Zweige,
rufen sie die Zweige
fort von dem Schalen, den
Schalen des Samens, der den Stamm
nicht hinauf kann, der den Flüchtigen, den
spitzohrigen Obrigkeiten,
nicht zu folgen vermag, der es
nicht aus der Schale schafft,
einhäusig da liegt,
einsilbig das eigene Wachsen darlegt,
dem Verstand gleich
nicht hinaus kommt, nie hinaus.
Zwei kleine Körper raufen,
brechen im Spiel den Friedensfluch des Flieders,
draußen bebt ein Baum,
wie nur ein Baum beben kann

Für R.

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Nasima Razizadeh

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freiVERS | Avy Gdańsk

Slalom in Tartu

hinter der Sorge
läuft jemand her, weicht
dem Mondrotz aus, der
wie verächtliche Kometen
ausgespien auf den Straßen liegt
jede Nacht spuckt der Mond auf uns Pisser, amigo
unsere Visagen verstecken wir hinter
heruntergelassenen Rollos, während’s
im Treppenhaus klimpert: die Sorge schließt Türen auf
und schmeißt sich aufs Sofa; lass!
lass sie nur bleiben, die geht
schon wieder
eine Nacht mit Blutarmut und Erik
über den Kerzen Gedichte
Wörter brennen aus und wenn
wir einen Blick riskieren ist
manchmal ein Lächeln aus-
zumachen zwischen den runden
Augen der Autos, die leuchten
vor Staunen: sie bewundern die Dunkelheit
und bewahren das fröhliche Schwarz
am Tag in offenen Mündern; erinnern an
deine verspielten Zähne, dein
lückenhaftes Lächeln
wenn die Sorge dich in meine Wohnung führt

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Avy Gdańsk

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freiVERS | FatimaDjamila

Brandenburg
(Ein weites Feld)

Durchsetzt von Steinen und Saatgut
Rehe am Waldesrand
Ist Furcht die Einzahl von Furchen
Ein Fuchs schleicht über den Sand

Wie Sargdeckel knarren die Bäume
Wohltönend stirbt er
Der Wald
Überall Manufakturen
Und der Ostwind
Weht dieses Jahr kalt

Heimat
Glaziale Serie
Wildverbiss
Zu wenig Geld

Müdigkeit küsst sanft die Sehnsucht

Es ist wohl ein weites Feld

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FatimaDjamila

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freiVERS | Ferenc Liebig

Artenschutz

als würde man an einem Fenster
hinaus starren und plötzlich ist das
Licht anders und diese Andersartigkeit
anfangs noch ameisenklein wächst an
zu einem Knistern mit Flügeln und wo
waren noch die Sterne oder die Wolken
oder die Zeit denn so im Tüll ist es
wie weggewischt und nur das Licht erinnert
an die Unterschiede zwischen Hell und Dunkel
und nur das Licht weiß von Meer und Land
und nur das Land weiß von Licht und Meer
und nur das Meer weiß von Land und Licht
und man hat Hände in der Luft und berührt
sich durch die Witterung hindurch und durch
die Witterung hindurch ist der schlohweiße Blick
der vom Fenster hinausstarrt mit seinen gebogenen
Wimpern und seinen schneetief verwehten Fragen
ein Fisch der offenmundig am schlammigen Ufer
nur noch hinnehmen kann
und wozu das Ganze
wozu dieser Hinterhalt
der den Vorhang beiseite bewegt
als wären es rückwärtige Gezeiten
man durchlebt noch einmal und nochmal und nochmal
und am Ende ist man in einer Schleife des Erlebens
und das Fenster steht offen und das Licht ist auf der Haut
und die Haut glüht und kurz ist es eine Sehnsucht
bald schon eine Trauer
die man nicht erklären kann

 

Ferenc Liebig

 

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freiVERS | Georg Großmann

Zeitzikade

die Zeit raschelt
geflügelt, wie ein
Insekt
unter der Borke
des Kosmos

ich bilde
Früchte in deinem
Traubengerüst
tropfengroße Beeren
die nach uns schmecken

ich schwimme
zerreiße das
Tuch Wasser-
linsen, welches deine
Weiherhaut bedeckt

gefranste
Salamandersonnen
perlen aus
dem Legestachel

abgetreppte
Dunkelheit, die
Nacht, ein hohes
schmales Haus
mit Erkern, Schindel-
dach und Lampions

wir leben darin

der Tag verglimmt vor
dem geschlossenen Lid
unseres Schlafzimmerfensters

die Zeit zirpt
die Zeit stirbt
wir sterben
unter der Borke des Kosmos

Es ist schon wieder Herbst

Du bist noch immer bei mir
Seit neun Herbsten.

Die Kälte kommt gekrochen

Vielleicht gelingt mir endlich
ein gebührendes
Gedicht über den
Sommer.

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Georg Großmann

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freiVERS | Sonja Jurinka

Die Ferne unter meinen Füßen

Viel zu dicht
stehen die Fichten beieinander
verschlucken jeden Lichtstrahl
der sich an den Spitzen vorbeitanzen
und das Geäst wärmen will.
Es krabbelt in der schuppigen Rinde
Nacktschnecken schieben sich voran
lassen ungehemmt ihre glitzernden Spuren zurück
wo zähes Harz aus der wunden Borke glänzt.
Ein weißer Schleier
hängt sich träge vor mein müdes Gesicht
ich schüttle mich
ängstlich
weil ich seinen Besitzer womöglich mit mir herumtrage.
Die Wanderung hinterlässt Fetzen an meinen Füßen
erdiger Dreck klebt an den Sohlen
und vertrocknete Gräser
lugen frech zwischen den Zehen hervor
umflechten gierig die Nagelbetten
kitzeln keck
als ich meine verbrauchten Beine
mühsam vor dem Kaminfeuer ausstrecke.
„Herein“ rufe ich
doch es ist nur der Buntspecht
der die Termiten aus der Veranda bittet.

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Sonja Jurinka

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freiVERS | Andreas Pavlic

Andalusian Dream

Wir liegen in aufgeblasenen alten LKW-Schläuchen
und schauen hinunter in die andalusische Ebene
wo sich die weißen Windräder drehen.

So viel Strom,
sage ich und hebe meinen Plastikbecher mit Sangria.
Der Wind wird unsere Zukunft sein,
antwortest du und schaltest die elektrische Zahnbürste ein.
Der Bürstenkopf vibriert.
Du streckst sie in den Wind.

Gotta keep those lovin good vibrations
good good good good vibrations,
beginnst du zu singen.

Unten sehen wir ein gelbes Motorrad in das Dorf einfahren.
Du wettest darauf, dass es ein Postbote ist.
Ich bin mir nicht sicher.

Heute weiß man nicht,
ob es überhaupt noch
ein Postamt gibt,
oder ob man die Briefe beim Bäcker abholt.

Es ist schwer zu sagen, was in dieser Zeit noch zeitgemäß ist.

Eine Krähe fliegt vorbei,
weiter durch den Windpark.
Man sieht, sie hat sichtlich Probleme den Kurs zu halten.

Wir sind in einer Zwischenzeit, sagst du und
schwenkst den leeren Plastikbecher.
Ich verstehe,
schenke noch etwas Sangria nach.

Wir liegen schon den ganzen Nachmittag auf dem Hügel.
Der Sonnenschirm tut sein Bestes. Alles außerhalb der
Kühlbox scheint wie ausgetrocknet.
Bald wird auch die Sangria leer sein.

Das Motorrad verlässt wieder das Dorf
und zieht ein Staubwolke nach sich.

Es ist unglaublich heiß.

Dass der Wind nur oben bei den Rädern weht
und unten, da steht die Luft. Wir liegen nur da.
Es gibt nichts mehr zu tun.

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Andreas Pavlic

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freiVERS | Bastian Rosenzweig

What is love I

Fußtritte
am ganzen Körper.
Hämatome
in allen verfügbaren Herz-Emoji-Farben.

Die ständige Frage
ob man nicht doch
nur
jemanden ficken will.

Endlich mal wieder
ohne Film
weinen.

Es tut durchgehend weh
und manchmal
hat man dabei
einen Orgasmus.

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Bastian Rosenzweig

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freiVERS | Julo Drescowitz

Störche

Störche
im Himmel
zwei Stück
auf den Treppenstufen vor der Bib
am Fluss
das Wasser rauscht
ich tue, als ob ich
etwas
fangen
würde
Dummkopf
einen Kürbis
einen Ball
aus dem Himmel
ich stehe auf und
lache
mein Kumpel
auf der Treppenstufe
neben mir
ich balle die
Faust in
den
Himmel
und sage
Wieso
habt ihr mir
ein
Kind
geschenkt?

Später
lache ich
nicht mehr
Haut an Haut
liegen wir
im Bett
feucht vor Schweiß
dein Geruch
Tränen in
deinen Augen
Ich erzähle
dir
von den
Störchen
und du
hörst mir
zu
still
schließt die
Augen
Es sind
Dinge wie
Störche gesehen
zu haben
die
uns Glauben schenken
Schweiß auf
deiner Stirn
das Rauschen
des Flusses
vor unseren
Fenstern
die
Störche
weiß
mit
langen
Hälsen
fliegend
irgendwo
dort draußen
sie zu
sehen
ist
ein eigenes kleines Wunder
und
diese Art
der
Wunder
lassen
uns
weiterleben

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Julo Drescowitz

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freiVERS | Silke Scheffel

sinnig II

barfuß insgesamt
der abschied spricht sich dunkelrot
wie vorgestern
das brombeerblut gemalt an deiner
oberlippe ränder sagst im norden
liegt das glück
und im schatten balzender birkenwälder
wo ein permanenter farbenwechsel
wangenlicht bewegtes deines
schneeweiß
schneegrün
schneeorange
dazwischen
auch mal sand und dünen schrieb ich
dir zuletzt in blanke zwischenräume zehen
wo wir gingen und lebten und liebten
weil wir wussten tief in uns das meer
klingt seine eigene landschaft nass
darin verschwammen und vergaßen
alle maße zeit
noch mehr
den blassen blauen heimweg

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Silke Scheffel

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