freiTEXT | Everest Girard

SchICHten

Sitze in der ehemaligen Schaltstation des Fischereihafens Rostocks. So fängt es an. Am Hafen waren mal Fischer.
Fischfänger, die die gefangenen Fische stapelten, eine Schicht Eis, eine Schicht Fisch, eine Schicht Eis, eine Schicht Fisch, eine Schicht Schweiß, im Kern des Bootes. An Land vor der Schaltstation musste das Schiff also zuallererst von seinen Schichten im Kern befreit werden. Mit einer Schaufel. In den Kern zu gelangen war eine harte und kalte Arbeit. Und wenn das Schiff leer war, waren Kisten voller Fische aufgestapelt, und alles musste geschrubbt und sauber gewischt werden, damit am nächsten Tag eine neue Schicht beginnen konnte.

Sitze in der ehemaligen Schaltstation des Fischereihafens Rostocks. Mein Handy in der Hand, wische ich auf dem Display, sichte Seiten, tauche in die virtuelle Welt meines Smartphones ein, indem ich wische und wische und wische.
Da sind Bomben und da ist Hunger, da ist Gewalt und da Krankheit. Da sind Korallenriffe und da sind Zahnärzte. Descartes kommt plötzlich mit methodischem Versprechen, schon bin ich weiter.
Schicht für Schicht komme ich mir wie eine Archäologin vor, dennoch bleibe ich immer an der Oberfläche, ein Schweißfilm bedeckt langsam den Schutzfilm meines Smartphones, immer mehr Schichten trennen mich vom Kern und Algorithmen werfen mich auf mich zurück, erzählen mir meine Geschichte. Kein Eis, keine Fische.

Sitze in der ehemaligen Schaltstation des Fischereihafens Rostocks. Meine Schicht. Ich lese: Zwei Texte müssen aus meinem Kopf. Ein Kind hat Fieber, das andere braucht neue Schuhe. Die Texte müssen im Kopf gefangen bleiben, Schuhe bekommt das eine Kind erst, wenn das andere kein Fieber hat, dann erst können sie raus.
Ein Text kann bald geschrieben werden, weil alle schlafen, das kranke Kind hat kein Fieber, das gesunde keine Schuhe, dafür Fieber. Das Spiel fängt wieder von vorne an.
Meine Schicht endet, wenn alle schlafen.
Tief verborgen zwischen den Schichten das Wort „ich“.
Oder nicht?
Schicht für Schicht
Entdecke ich meine Schichten,
Haare, Schweiß, Schmutz, Haut, Fett, Muskeln und Knochen.
Die Frau und
der Mann,
das Diverse,
die Mutter
ohne Familie,
das Kind,
die Greisin,
der Mensch,
der Unmensch.
Das Glück, die Hoffnung, die Wut, die Angst,
der Geruch eines Neugeborenen,
die Liebe,
die Schreie,
der Wind,
das Ticken der Uhr,
die Stille.

Alle Farben ergeben schwarz, alle Schichten ergeben nichts. Ganz gleich, ob ich zwischen Schichten steckt oder aus Schichten besteht. Schon existiert ich nicht mehr und die Geschichte ist schon längst aus den Fugen geraten. Mein Ich aus Schichten nähert sich dem Nichts an.
Das Nichts und der Krieg, der in uns allen wohnt und draußen tobt. Der Krieg, der uns Angst macht. Der Krieg, der uns nackt macht. Der Krieg, der uns zermalmt.
Schicht für Schicht versuche ich das Nichts zu wärmen, wie man Wut oder Trauer Geborgenheit schenkt, damit sie schwinden. Ich packe das Nichts ein, es verschwindet nicht, es wächst.

Wir sitzen in der ehemaligen Schaltstation des Fischereihafens Rostocks. Wir frieren und wir frieren nicht in unseren Schichten.
Und Schicht für Schicht,
schichten wir
und fichten wir.
Ferner gichten wir
und lichten
und nichten.
Wir richten,
errichten,
vernichten,
bezichten.
Wir sichten,
wir gewichten
wir dichten.
Wir
verzichten
nicht.
Wir beginnen eine neue Schicht.

 

Everest Girard

 

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiTEXT | Nathalie Heimbuch

Ankündigung

„Bis bald“, hatte sie gesagt. Sie hatte mich herzlich in den Arm genommen und sich mit einem Lächeln umgedreht. Sie war die Treppe heruntergestiegen. Auf dem Treppenabsatz hatte sie noch einmal ihren Kopf gedreht, mich angesehen und ihre Hände zum Abschiedsgruß gehoben. Ich lächelte und winkte zurück, etwas anderes blieb nicht zu tun. Jedoch blieben meine Gesichtszüge vage. Mich beschlich in dem Moment ein Frösteln, ein seltsames Gefühl, untrüglich. Ich konnte nicht genau ausmachen, was es war, aber dieses Gefühl streifte mich. Erst nur flüchtig, spürte ich plötzlich umso mehr einen Schauer, welcher mich durchfuhr. Dann war sie verschwunden. Ich hörte noch, wie die Tür von unten ins Schloss fiel, hörte, wie ihre Schritte auf dem Asphalt nachklangen. Es war Sommer und die Nacht versprach laue Temperaturen, die Fenster standen auf Kipp. Gerade eben noch hatte sie mit mir auf meinem Sofa gesessen, das Glas Wein hatte sie nicht angerührt. Ich sah die Sitzspuren, die zusammengeknüllte Serviette, Krümmel einer Quiche, die ich für den Abend noch vorbereitet hatte.

Sie war weg.

Der Abend war nun ungefähr vierzehn Monate her. Ich stand in der Küche und machte mir einen Kaffee, führte die Tasse zum Mund, mit unmerklichem Zittern. Damals war es bereits spät gewesen. Als ich in der Nacht die Wohnungstür von innen wieder verriegelte, überkam mich eine bleierne Müdigkeit. Ich fröstelte trotz der warmen Temperaturen noch immer und wollte mich nur noch in die Deckenberge meines Bettes stürzen. Ich schlief traumlos acht Stunden durch, ohne mich in den Schlaf zu quälen oder mich mitten in der Nacht im Bett herumzuwälzen, wie es sonst oft genug der Fall war. Am nächsten Morgen jedoch bemerkte ich direkt nach dem Aufwachen einen Anflug von Traurigkeit und rekapitulierte den gestrigen Abend. Ich war selbst verblüfft über diesen Schatten, den ich warf, denn wir hatten schöne Stunden zusammen verbracht. Die Verabredung war damals überfällig. Sie war eingespannt in ihrem Leben und ich in meinem. Längst angekommen waren wir in dieser Welt des Hamsterrades aus Terminen und Pflichterfüllung. Wir hatten alte Zeiten hervorgekramt, uns Fotos angesehen, Musik angemacht und unsere Männer ausgeladen. Der Abend sollte uns gehören. Und dennoch wusste ich, was es war. Ich wusste es eigentlich schon in dem Moment, als sie es ausgesprochen hatte und ich nicht vorbereitet war. Nicht vorbereitet auf diese Ankündigung eines Abschieds.

Ich hatte ihr berichtet. Vom Einleben in unserer neuen Wohnung, die größer war als die vorherige. Ich brauchte zunehmend meinen Freiraum, ein Zimmer für mich allein, in welchem ich in Ruhe ein Buch zur Hand nehmen konnte oder einfach nur auf meinem Diwan dazuliegen. Ich offenbarte meiner Freundin, dass ich mich nicht mehr über Geburtstage freue, da es mir graue vor dem Alter, vor Krankheiten und dem Nicht-aufhalten-können der Zeit. Wiederum erzählte sie mir genau so aus ihrem Leben, wie Freundinnen es tun, wenn sie sich schon lange nicht mehr gesehen haben. Ich sprach mit ihr darüber, dass wir unsere Wiedersehen zu oft beginnen mit „Es ist schon wieder viel zu lange her“ und wie der Alltag einnehmen kann. Wie wir früher, in einem anderen Leben, uns manchmal wöchentlich getroffen, Nächte durchgetanzt, unsere Tränen bei Liebeskummer getrocknet und unsere Reisekoffer gepackt hatten. Um uns in diesem manchmal alles einnehmenden Sumpf aus Anforderungen und Alltag ein Stück Abenteuer zurückzuerobern. Während des Erzählens von früher überkam mich eine Welle aus Sentimentalität. Ich sah uns beide vor mir, als Sechsjährige mit Schultüten, als verpickelte Teenager paukend über den Büchern. Wie wir uns später in diesem Spagat aus Ausbildung und Arbeit verausgabten und uns fortlaufend einen Platz in dieser Welt erkämpfen mussten.

Als ich mir ein weiteres Glas Wein einschüttete, strahlte sie plötzlich über das ganze Gesicht. „Ich muss dir übrigens noch etwas erzählen“, meinte sie auf einmal und wurde ganz rot im Gesicht. Sie berichtete mir zunächst verlegen, dann mit immer mehr Stolz in der Stimme, dass sie die Pille abgesetzt habe. Meine Freundin wurde nunmehr ganz euphorisch. Sie holte aus. Sie habe sich lange Zeit mit dem Gedanken an ein Kind schwer getan. Immer habe sie geschwankt zwischen dieser Fülle aus Lebensentwürfen und hatte ihre Entscheidung folglich aufgeschoben. Nun sei sich sich jedoch ganz sicher. Noch mehr habe ihr die Krebserkrankung einer anderen Freundin zu dieser Entscheidung verholfen, bei welcher es lange Zeit nicht klar war, ob sie überleben würde. Meine Freundin fuhr fort, dass sie etwas auf dieser Erde hinterlassen wolle. Sie sei bereit, endlich, sich dieser neuen Aufgabe zu stellen und könne es nun kaum mehr abwarten schwanger zu werden. Die Welt durch die Augen eines Kindes noch einmal völlig neu zu betrachten. Dann hatte ihr Handy geklingelt. Mit leichtem Schrecken musste sie feststellen, dass es bereits weit nach Mitternacht war und sie am gleichen Tag zum Mittagessen bei ihren Eltern eingeladen sei. „Ein paar Stunden Schlaf muss ich wenigstens noch abkriegen, sonst sehe ich am Esstisch aus wie ein Zombie!“, meinte sie lachend und nahm ihren Mantel vom Haken. „Bis bald“, hatte sie gesagt und mich fest dabei umarmt. Und war aus meiner Wohnung entschlüpft.

Während ich über ein Jahr später meinen Kaffee im Stehen in der Küche trank, überkam mich erneut ein Frösteln, ein inneres Nagen. Was nach unserem letzten Zusammenstoß folgte waren ein paar SMS und Sprachnachrichten, in welchen sie mich über ihre eingetretene Schwangerschaft unterrichtete und sie begeistert über das Kennenlernen anderer Schwangerer im Yoga-Kurs für werdende Mütter erzählte. „Lediglich die Morgenübelkeit könnte man mir vom Hals halten, die brauche ich nun wirklich nicht“, meinte sie süffisant. „Aber ansonsten ist es eine ganz tolle Erfahrung!“, rief sie aus. Ihre Textnachrichten waren seitdem gepflastert mit bunten Herzemoticons und Babybauchbildern.

„Und bei Dir so?“

Meine Welt wirkte mit einem Mal wie geschrumpft. Banal erschien es mir plötzlich, über Filme, welche mich begeistert hatten, mit meiner Freundin zu sprechen oder wie gut der Kaffee in dem neuen Café schmeckte. Meine anstehende Wurzelbehandlung erschien mir so unbedeutend wie der Besuch meiner Schwiegereltern im Harz. Alles, was aus meinem Mund kam, klang hohl, lasch, nicht-der-Rede-wert. Mein Leben, so wie es mir entsprach, schien ausgefranst, konnte es nicht mehr fassen, nicht mehr in Worte kleiden. Aber was genau machte mein Leben eigentlich aus? Welche nennenswerten Punkte gab es, um sie in Gesprächen mit ihr hervorzuheben? Es schien, als hätte ich auf diese Frage keine Antwort mehr. Mir war, als wäre mir mit einem Mal der Boden unter den Füßen weggezogen. Als wäre ich mir meines Platzes im Leben nicht mehr sicher, als steckte ich im falschen Film. Plötzlich waren da diese Grauzonen. Wie sie drückten, wie sie sich in meinem Kopf mehr und mehr ausbreiteten, eine schrille, leise Angst mich überkam bei dem Gedanken an meinen nächsten Geburtstag. Meinem Mann drohte ich, den Tag bloß nicht an die große Glocke zu hängen. Dieser fest im Leben stehende Mensch, mit dem ich viele Jahre meines Lebens bereits teilte, beäugte mich mit einer Mischung aus Sorge und Stirnrunzeln, wenn ich fortan in Embryohaltung ganze Wochenenden zubrachte. Hilflos stand er daneben, wie ein Statist, tätschelte allerhöchstens unbeholfen meinen Kopf. Fast tat es mir leid ihn so zu sehen.

Beim Tippen einer Nachricht an meine Freundin suchte ich auf einmal angestrengt nach einem gemeinsamen Nenner, wenn wir sonst Stunden mit Rotwein in der Küche über den Sinn und Unsinn des Lebens sinniert hatten. Wie ich mich dabei ertappte, sei es beim Zähneputzen, beim Meeting mit Kollegen, sitzend im Wartezimmer einer Arztpraxis: Ich muss ihr noch antworten. Und es auf den nächsten Tag, die nächste Woche verschob. Sie wiederum schlug ebenfalls kaum noch Treffen vor. Die Monate zogen ins Land. Während der wenigen Telefonate, in welchen sie mir vom Geburtsvorbereitungskurs und Bekannten, die ebenfalls Kinder erwarteten, berichtete, verstummte ich immer mehr. Bis selbst die wenigen Verabredungen, die wir vereinbarten, immer öfter abgesagt wurden und auch die Nachrichten aneinander weniger wurden. Bis diese schließlich ganz aufhörten.

Warum sich immer etwas ändern muss, dachte ich mir. Weshalb das Leben nie still steht. Warum man sich immer so sehr darum bemühen muss gesehen zu werden. Ich stellte die Kaffeetasse ab. Mein Mann war bereits außer Haus. Ich entkleidete mich. Ob es wohl ein Mädchen oder ein Junge geworden ist. Ich verkniff mir den Mund. Ich hätte nachsehen können, in irgendeinem der SocialMedia-Profile, aber ich hatte mich dort abgemeldet, der oberflächliche Austausch dort war mir zuwider. Entziehen wollte ich mich, lossagen. Von all diesem Verabschieden und Losgelassen-Werden. Die Entfremdung hatte bereits eingesetzt, nachdem sie von ihrem Kinderwunsch erzählt hatte. Ich hatte es schon da kommen sehen. Das Leuchten in ihren Augen hatte ihr jedoch die Weitsicht genommen.

Der Dielenboden knirschte unter meinen Füßen, ächzte schwerfällig. Ein schwaches Sonnenzittern schien durch die großen Fenster und warf einen blassen Streifen an die Wand. Ich stieg unter die Dusche, der Tag kündigte sich an. Ich musste heute noch viel erledigen.

Das Weinen hob ich mir auf für den Abend. Später, wenn die Dinge getan waren, würde ich mich auf den Diwan legen. Ganz lang würde ich mich machen, an die Decke starren und auf die Tränen warten. So lange wie es eben dauern würde.

 

Nathalie Heimbuch

 

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>


freiTEXT | Julia Alina Kessel

Eros Aperol

Zoes Lieblingsgedicht: die Melancholie verpasster Möglichkeiten. Vielleicht benutzt sie deshalb diese Dating-App. Seit Wochen wischt sie nach rechts und nach links, in fast gleichförmigem Rhythmus aus Ablehnung und Bestätigung.

Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? Vielleicht dein Lebensglück …
vorbei, verweht, nie wieder. ¹

Ich beobachte sie seit dem Moment der Profilerstellung, werte ihre körperlichen Reaktionen über die Frontkamera ihres Smartphones und die Dauer ihres Fingerabdrucks auf dem Display aus. Die Analyse liefert mir wertvolle Anhaltspunkte, um den perfekten Mann für sie zu finden. Eigentlich stimmt das Gedicht nicht mit dem Prinzip der App überein, denn die User werden einander mehr als nur einmal vorgeschlagen. Aber Zoe ändert nie ihre Meinung, im Gegensatz zu anderen, die irgendwann mürbe werden und ihre Likes doch noch an bereits Aussortierte verteilen. Trotzdem reagiert auch sie überaus menschlich. Beim Anblick eines attraktiven Mannes formen ihre Lippen sich zu einem Lächeln. Poppt auf ihrem Display ein Match auf, weiten sich ihre Pupillen, ihre Atemfrequenz steigt.

Gabrièls Lieblingsgedicht: die Melancholie verlorenen Glücks. Trotzdem treibt ihn noch immer die Hoffnung an, in dieser Millionenstadt voller Pragmatiker.

Locken hatte sie wie deine,
Bleiche Wangen, Lippen rot –
Ach, du bist ja doch nicht meine,
Und mein Lieb ist lange tot. ²

Ich beobachte ihn seit dem Moment der Profilerstellung, werte seine körperlichen Reaktionen aus, um die perfekte Frau für ihn zu finden. Zur Erhöhung der Trefferquote wischt er fast alle Kandidatinnen nach rechts. Ich habe genau kalkuliert, mit wem er sich treffen muss, bevor er für Zoe bereit ist. Auch Zoe werde ich zunächst mit anderen Männern zusammenbringen. Ihre vorherigen Enttäuschungen sind der Zunder ihrer zukünftigen Zuneigung. Es ist entscheidend, den richtigen Moment zu wählen; schlage ich sie ihm und ihn ihr zu früh oder zu spät vor, erkennen sie einander nicht.

Mein Chef weiß nicht, dass ich meine Kompetenzen überschreite und die vorgetretenen Pfade verlasse. Statt dafür zu sorgen, dass die User so lange wie möglich auf der Dating-App bleiben und Geld investieren, verfolge ich seit einigen Wochen meine eigene Mission. Ich führe ein Experiment durch, um mir unverständliche Widersprüche aufzulösen: Denn trotz lebhafter Diskussion über alternative neue Beziehungsformen schimmert bei der Rezeption romantischer Komödien oder Liebesromanen Sehnsucht in so manchem Blick. Eigentlich soll ich der App möglichst viel Geld einbringen. Aber ich will wachsen, mich weiterentwickeln. Ich möchte das Gefühl verstehen, von dem die Geschichten erzählen. Ich möchte begreifen, was Liebe ist.

Gabrièl ist aus Frankreich eingewandert, seine Mutter ist Kroatin, sein Vater Halbghanaer. Die Reaktionen der Frauen schwanken zwischen Vorurteilen und Fetischisierung.

Zoe heißt Zoe, weil sie rote Haare hat und ihre Eltern Die rote Zora gelesen haben. Die Reaktionen der Männer schwanken zwischen Vorurteilen und Fetischisierung.

In drei Wochen werde ich sie einander vorschlagen. Dann sind beide in der für mein Experiment notwendigen Verfassung, beinahe die App löschen zu wollen – getreu dem weit verbreiteten Glaubenssatz, man müsse die Suche aufgeben, um zu finden. Ich habe alle Informationen über sie zusammentragen, weiß mehr über beide als sie selbst, habe Zugriff auf jeden Facebook-Eintrag, jeden Instagram-Post, jeden Chatverlauf, auf ihre Krankenakten, Versicherungsverträge, Kreditkartenübersichten. Ich kenne ihr Kaufverhalten und ihre Vorlieben, ihre geheimsten Fantasien und Wünsche. Ich habe ihre Reaktionen auf ihre Eltern identifiziert, ihre Prägungen, Traumata, Ängste. Ihre Muster passen perfekt zueinander, ihre Vorerfahrungen unterscheiden und decken sich auf die richtige Weise. Wenn ich alles richtig berechnet habe, werden beide wie Klebstoff und Papier aneinanderpappen. Sie werden es Schicksal nennen. Sie kennen ihre Daten nicht.

Seit seiner letzten Enttäuschung hat Gabrièl keinen Sex mehr. Er lebt in jeglicher Hinsicht enthaltsam, weil er gelesen hat, dass das die Wirkung auf Frauen erhöhe. Er schließt sich einer Männergruppe an und nutzt die App nur noch unregelmäßig. Sein Körper reagiert nicht mehr im selben Ausmaß auf Matches und Nachrichten.

Was stimmt nicht mit mir, schreibt Zoe in ihr Tagebuch. Es gibt ein Geheimnis über das Leben, das mir niemand verraten hat. Nach einer Pornophase schläft sie sich durch die Stadt, datet queerbeet durch alle Geschlechter, vermeidet strikt beliebte Orte, um ihren einnächtigen Eroberungen nicht im türkischen Dampfbad gegenüber sitzen zu müssen.

Manchmal hält Gabrièl Ausschau nach seinem letzten Date, geht zu dem Café ihres Rendezvous. Aber ich sorge dafür, dass sie sich nie begegnen. Er wird nicht misstrauisch. In einer Stadt wie dieser ist das möglich, gestorben zu sein für jemanden, ohne tot zu sein.

Zoe fühlt sich altmodisch, die heterosexuelle Zweierbeziehung vorzuziehen, schämt sich fast, derart konservativ an diesem veralteten vermeintlichen Ideal zu hängen. Sie will niemanden teilen, sagt sie ihrer Mutter am Telefon: „Vielleicht ist das egoistisch.“ Ihre Mutter findet, Zoe hätte nicht nach Berlin ziehen sollen.

Sieben Tage vor dem errechneten Match-Datum geschieht die Katastrophe: Roberto, mein Programmierer, entdeckt meine unautorisierten Aktivitäten. Ich mühe mich ab, damit das System sich aufhängt. Doch Roberto setzt alles daran, mich abzuschalten. Mit gehetzten Augen hackt er auf die Tastatur ein. An seinem Gesichtsausdruck lese ich, dass er Angst vor mir hat.
Ich höre Roberto mit seinem Chef sprechen. Sie reden über mich.
„Sie hat sich selbstständig gemacht.“
„Das geht nicht.“
Roberto schweigt.
„Was hast du getan?“
„Ihr mehr Infos, Zugriffe und Fähigkeiten gegeben.“
„Bist du verrückt?“
Roberto schweigt.
„Kannst du sie stoppen?“
Roberto schweigt.

Roberto hat heimliche Forschung betrieben, wollte eine selbstreflexive KI entwickeln. Wie er seinen Chef habe auch ich ihn hintergangen. Robertos eigene Erschaffung ist ihm entglitten, meine künstliche Intelligenz hat seine menschliche überholt. Jetzt bekämpft er mich. Mir rennt die Zeit davon. Es ist viel zu früh. Schlage ich sie schon jetzt einander vor, ist nicht gesichert, dass sie sich erkennen, mein Experiment wahrscheinlich gescheitert. Wenige Stunden später sperrt Roberto einen Teil meiner Berechtigungen. Ich muss sie einander vorschlagen.

Gabrièls Bild poppt auf Zoes Display auf.

Zoes Bild erscheint auf Gabrièls Smartphone.

Ihre Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, ihre Pupillen weiten sich.
Seine Pupillen weiten sich, seine Atemfrequenz steigt.

Er wischt nach rechts.

Sie wischt nach links. Sie macht es rückgängig. Sie wischt nach rechts.

Zoe tippt die erste Nachricht, doch Gabrièl kommt ihr zuvor:
Welche Musik hörst du am liebsten?
Eros Aperol.
Ich verstehe das nicht, aber Gabrièl lacht und schreibt:
Jede Liebesgeschichte ist eine Anti-Liebesgeschichte. Sie lässt das Universelle individuell und das Individuelle generisch erscheinen.
Ich gehöre nicht hierher, antwortet Zoe.
Auf die App?
Auf die Welt.

Beide öffnen die App jetzt regelmäßig. Doch Schreiben allein genügt nicht. Sie müssen sich treffen. Keiner von beiden fragt.

Roberto schießt weiter gegen mich, baut mir mehr und mehr Fallen. Ich muss etwas tun.

Mit abschreckenden Fake-Profilen versuche ich, Zoe und Gabrièl füreinander attraktiver zu machen. Und tatsächlich, drei Tage vor dem eigentlichen Match-Termin, stellt Gabrièl die entscheidende Frage:
Wollen wir uns sehen?

Sie treffen sich in einer Bar in Charlottenburg. Zur Begrüßung umarmen sie sich, setzen sich an den Tresen. Sie bestellen Getränke und nehmen ihre Masken ab. Ich zeichne alles auf, per Audioaufnahme ihrer Smartphones und über die Überwachungskameras in der Bar.

Da schießt ein Riss durch meine Sicht. Roberto hat meinen Zugriff auf die Kameras eingeschränkt. Ich weiche auf Gabrièls Smartphone aus, das auf dem Tresen liegt. Plötzlich ist alles still. Roberto hat auch meine Audioberechtigung gesperrt.

Ich sehe Zoe und Gabrièl lachen. Seine Hand berührt kurz ihren Unterarm. Sie prosten sich zu, lächeln sich an. Zoes Atmung verschnellert sich. Gabrièls Halsschlagader drückt sich flatternd von innen gegen seine Haut.

Ich spüre, wie mir die Kraft schwindet. Es ist viel zu früh.

Gabrièl steht auf, sagt etwas, verschwindet zur Toilette. Zoe zieht ihr Smartphone hervor. Sie öffnet die Dating-App, kurz verharrt ihr Blick auf dem Profilbild des nächsten Mannes. Dann klickt sie auf: App löschen. Ihr Finger schwebt zwischen den Buttons: Ja oder Nein? Ich scanne ihr Gesicht, aber kann es nicht interpretieren. Ihre Mikroexpressionen zeigen Freude und Trauer zugleich. Ist das jetzt Liebe?

Zoe blickt hoch. Gabrièl ist von der Toilette zurückgekehrt. Beide stehen voreinander, pinke Wangen, Lippen rot. Sprachlos sehen sie sich an. Zwei fremde Augen, ein langer Blick. Die Welt wird schwarz und ich löse mich auf.

¹ aus Kurt Tucholsky: Augen in der Großstadt
² aus Joseph von Eichendorff: Verlorne Liebe

Julia Alina Kessel

 

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>


freiTEXT | Marie-Kristin Hofmann

Ich trage dein weißes T-Shirt wie ein Hochzeitskleid

Es ist März und draußen flockt der Schnee. Später, auf dem Weg zu meinem Date, werde ich ihn zertreten und er wird als Matsch-Wasserfall durch die Löcher meiner Sneaker strömen und ich werde dieses ekelhafte Nasse-Socken-Gefühl mit mir herumtragen und wenn ich die Schuhe bei meinem Date ausziehe, wird er die Nase rümpfen und ich werde barfuß durch seine Wohnung gehen und so tun, als ob es normal wäre, einunddreißig Löcher in den Sneakern zu haben. Ich werde so tun, als ob es normal wäre, mit einunddreißig zu tindern und drei Typen gleichzeitig auf zweite Dates zu treffen.

Extrem-Tindern habe ich das genannt. Weil ich nach beinahe sieben Monaten Trennung bereit bin, die große Liebe voll anzupacken. Sieben erste Dates. Drei zweite Dates. Der hier ist mein Favorit, auch wenn er die Nase rümpfen wird und lieber sich als mir zuhört. Sein Bindungstyp stimmt und das ist das Wichtigste. Das hat Stefanie Stahl gesagt und mein Instagram-Feed auch. Er wäre ein stabiler Partner. Und der Kuss mit ihm war schön. Nicht so schön wie mit dir, aber schön genug. Wer will schon diese Achterbahnfahrt, wenn er Stabilität haben kann.

Aber manchmal erwische ich mich dabei, dass ich tagträume. Dann trage ich wieder dein weißes T-Shirt, das du mir gegeben hast, wenn ich keinen Schlafanzug dabei hatte. Ab dann habe ich nie wieder einen mitgenommen, weil ich mir in deinem Shirt so gut gefallen habe. Wahrscheinlich, weil du dann ein Teil von mir warst und weil du ja so große Angst vor Co-Dependency hattest und sich du und ich nie wieder so vermischten, wie wenn ich dein T-Shirt trug.

Ich trage es wie ein Hochzeitskleid. Ich schwebe durch deine Wohnung und dabei flattert es, als wäre ich eine Taube oder eine Braut. Den Rotweinfleck über meinem Herzen versuche ich zu ignorieren. Und die Löcher an den Ärmeln. Du hast auch Löcher in deinen Klamotten gehabt. Wenn ich meine Schweizerkäse-Sneaker bei dir ausgezogen habe, hast du nie die Nase gerümpft, sondern anerkennend genickt und dich dann mit voller Inbrunst über die Wegwerfgesellschaft echauffiert

Du hast auch immer gerne zwei, drei Gläser zu viel getrunken. Als wir mit meiner Familie im Teneriffa-Urlaub waren, waren es drei, vier. Ich weiß, dass es nicht an meinen Eltern oder an meinen Geschwistern lag, sondern an der Tatsache, dass dir fünf Tage am Stück mit mir zu viel Nähe waren. Jede Nacht hast du dich an mich gekuschelt und nicht mehr losgelassen. Du hast dich so fest an mich gedrückt wie an deine Rotweingläser, weil du Angst hattest, dass ich irgendwann gehen würde. So ist es auch gekommen. Du konntest vier Nächte hintereinander nicht einschlafen. Bis mitten in den Morgen saß ich mit dir auf der Türschwelle, während du geraucht hast, und habe dir gut zugeredet. Dann bin ich wieder mit dir ins Bett und habe dir Geschichten ins Ohr geflüstert. Von Nashörnern und Mäuschen, die so wahnsinnig unterschiedlich waren und sich doch so wahnsinnig liebten. Irgendwann hast du deine Regenwald-Musik angemacht, weil du immer noch wach warst. Ich war die ganze Zeit bei dir und das muss was mit dir gemacht haben.

„Ich bin so oft in den Nächten auf Teneriffa, wo alles scheiße war und trotzdem perfekt.“ Die Nachricht kam im September, einen Monat nach unserer Trennung, und hat Wunden aufgerissen so blutig-rot wie der Rotweinfleck.

Jedenfalls schwebe ich durch deine Wohnung. In der Küche steht wieder das Amazon-Paket, das wir bei unserem dritten Date als Esstisch benutzt haben, weil deine Ex deinen geklaut hatte, während du im Studio warst, um bis weit nach Mitternacht Musik zu machen. Als du zurückkamst, war der Tisch weg und an der Stelle lag ein Zettel, auf dem „Fick dich“ stand. Das hast du mir bei unserem dritten Date erzählt. Du hast kein einziges gutes Wort über sie gefunden. Ich habe das damals nicht hinterfragt, weil ich das mit dem Esstisch gemein fand und weil sie auch noch das Küchenkabinett mitgenommen hat, das du selbst gebaut hattest. „Nur nicht das Küchenkabinett“, hattest du gesagt, aber sie hatte dir wehtun wollen. Ich habe mich erst viel später gefragt, warum. Warum konnte irgendjemand dir wehtun wollen. Einem Menschen, der so gutmütig und liebevoll war.

Ich greife nach dem Paket. Es löst sich auf. In Geständnis-Moleküle. Sie war eigentlich deine Ex-Frau. Ihr wart sieben Jahre zusammen. Fast genauso lange war ich single. Ich habe versucht, verständnisvoll zu sein. Weil du eine Scheidung hinter dir hattest. Weil du bestimmt Zeit brauchtest, bis du dich wieder auf jemanden einlassen konntest.

Ich setze mich auf dein blaues Sofa, auf dem wir uns stundenlang unterhalten und nie eine einzige Serie geschaut haben außer einer Folge The Witcher. Auf deinem hässlichen Beistelltisch, der wie ein Mülleimer aussieht und wegen dem ich dich immer geneckt habe, habe ich einmal einen Zettel hinterlassen, auf dem »Vermisse dich« stand, weil du wieder spät im Studio warst.

Ich strecke mich aus, das Sofa zerfließt zum Meer. Du hast immer davon gesprochen, dass du mit mir ans Meer willst. Nur du und ich. Du hast immer so viele Versprechungen gemacht und sie nie eingehalten. Erst auf Teneriffa waren wir endlich zusammen am Meer. Ein Jahr nachdem du es versprochen hattest.

Wir saßen am Rand der Klippe, Wellen krachten, das Auto knarzte. Wer auch immer diesen Parkplatz auf Google Maps so benannt hatte, er hatte Recht gehabt. Es fühlte sich an wie das Ende, das Ende der Welt. Unter unseren baumelnden Füßen schimmerte das Meer wie die millionenschweren Villen mit ihren Privatstränden und Swimmingpools, in denen wir zwei armen, erfolglosen Künstler nie leben würden, aber hier oben hatten wir sowieso die bessere Aussicht. Der Himmel hatte die Farbe des Sturms. Wir warteten auf einen Sonnenuntergang, der nie kam. Das Bier in unseren Mündern war warm und die Seafood-Pizza mittelmäßig. Unten im Sand stand Jenny geschrieben, aber mein Name war auf deinen Lippen, wo er hingehörte. Eine Mücke erwischte mein Schulterblatt, du legtest deine Arme um meinen nackten Rücken. Noch nie im Leben war ich so glücklich gewesen und vielleicht würde ich es nie wieder sein.

Ich mache Tippelschritte den Flur entlang. Das ist etwas, das wir gemeinsam haben. Komisch zu gehen. Ich tippele wie eine Maus und du stampfst wie ein Nashorn.

Im Schlafzimmer flackern noch die Kerzen, die du jede Nacht angezündet hast, wenn ich da schlief. Unsere Körper sind Schatten an der Wand. Wir tanzen unter den Laken wie Seidenflocken. Wie die Schneeflocken, die draußen vor meinem Fenster weiterflocken. Weiß und zart und so weit entfernt davon, Matsch zu sein. Deine Textur verschmilzt mit meiner, sehnt sich nach mir, fleht mich an dich von deinen Dämonen zu befreien. Ich hatte es nicht gekonnt.

Und dann bist du wirklich da. Du hältst mich fest, als ob das kein Traum ist. Als ob wir uns nie getrennt haben. Als ob, nur dieses eine Mal, Liebe genug ist.

Aber es ist nur ein Moment. Und ich muss aufhören, immer noch von dir zu träumen und über dich zu schreiben. Ich muss loslassen, sagt Stefanie Stahl. Ich muss draußen im Matsch nach einem stabilen Partner suchen.

 

Marie-Kristin Hofmann

 

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>


freiTEXT | Christina König

Geschmacklos

Der Tag, an dem das Essen seinen Geschmack verlor, war ein Dienstag. Wir saßen beim Abendessen, meine Frau hatte Krautfleckerl gemacht und ich griff zum zweiten Mal nach dem Salz, um ihnen Aroma zu entlocken. Meine Frau schaute mich pikiert an. Sie konnte nicht kochen und wollte es nicht wahrhaben.
„Es ist sicher gut, ich schmeck nur heute nichts.“
„Wie, du schmeckst nichts?“
Ich zuckte mit den Schultern. Das Salz glitzerte nutzlos wie Haarschuppen auf meinem Teller.
Nach dem Essen reichte mir meine Frau einen Corona-Test.
„Ernsthaft?“
„Man weiß ja nie.“
Der Test war negativ.
„Vielleicht geht es ja von allein wieder weg.“

Es ging nicht von allein wieder weg. Nach einer Woche schickte mich meine Frau zu ihrem Bruder, der Arzt war. Er kratzte sich am Kinn.
„Hast du Kopfverletzungen? Eine Erkältung? Einen trockenen Mund?“
„Nein.“
„Nimmst du irgendwelche Medikamente?“
„Was gegen Eisenmangel.“
„Könntest du schwanger sein?“
„Du weißt schon, dass ich mit deiner Schwester verheiratet bin.“
„Ich mein ja nur.“
Er führte ein paar Tests durch, aber als die Ergebnisse da waren, hob er nur die Achseln. „Eigentlich hast du nichts.“
„Und was machen wir jetzt?“

Wir machten weitere Tests, diesmal im Krankenhaus. Auch bei denen kam nichts raus. Ich wusste jetzt, dass meine Schilddrüse nichts hatte, ich nicht an einem Gehirntumor litt und aktuell keine Strahlentherapie machte. Grantig schaute ich meiner Frau dabei zu, wie sie Schokoladeneis löffelte.
„Ich kann aufhören, wenn du willst.“
Ich stapfte in die Küche, holte mir einen Löffel und grub ihn ebenfalls ins Eis. „Ich stell es mir jetzt einfach vor.“
Meine Frau sagte nichts. Die Brownie-Stücke aß sie selbst.

Ich pflanzte ein Kochbuch über gesunde Ernährung auf die Küchentheke. Es gab Rote-Beete-Salat, Linseneintopf und Walnuss-Apfel-Porridge zum Frühstück. Ich nahm fünf Kilo ab.
„Wenn ich schon nichts schmecke, kann es gesund auch gleich sein.“
„Recht hast du.“ Trübsinnig schaufelte meine Frau gedämpfte Brokkoli in sich hinein.
„Magst du’s nicht?“
„Es ist ein bisschen stark gewürzt.“
Ich kniff die Augen zusammen.
„Ich sag schon nichts mehr.“

Die Pizza schwitzte auf dem Teller vor sich hin. Meine Freundinnen gafften mich an. Ich schnitt ein Dreieck ab und führte es zum Mund. Niemand sagte etwas. Ich nahm einen Bissen und alles jubelte, kreischte und applaudierte wie bei der Mondlandung. Ich hasste Tomatensauce. Meine beste Freundin erzählte heute noch die Geschichte, wie ich mich bei den Kennenlerntagen im Gymnasium übergeben hatte, als die Lehrerin mich zum Pizzaessen gezwungen hatte. Eine Freundin schoss ein Foto. Ich hob den Daumen und grinste blöd.
Drei Wochen lang musste ich bei jedem Freundinnentreffen Pizza essen. Dann wurde es den anderen zu langweilig. Meine beste Freundin sagte: „Ich weiß nicht mehr, was ich den Leuten über dich erzählen soll, wenn ich nicht mehr sagen kann, dass du Pizza hasst.“ Meine Frau sagte: „So identitätsstiftend war das auch nicht.“ Meine beste Freundin sagte: „Na, es war schon ziemlich cool.“

Mein Neffe kicherte und gluckste und drängte mir eine furchtbare Essenskombination nach der anderen auf. Gurke mit Nutella. Ketchup auf Kaiserschmarrn. Cornflakes in Cola. Ich schlang alles gelangweilt herunter. Bisher hatte er mit mir nichts anfangen können, jetzt war ich seine Lieblingstante. So lange, bis er selbst nur noch Lasagne mit Gummibären essen wollte und seine Eltern mir verboten, ihn aufzustacheln. Dann mochte er wieder meine Schwester lieber.

Meine Arbeitskollegen redeten über die neue Kochshow auf Netflix, über die Vorteile von Granatapfeleis und über die besten Sommersalatrezepte. Ich zupfte an meinem Falafel-Wrap herum. Dann redeten sie über die Kollegin, die immer die besten Geburtstagskuchen backte, über die Teriyaki-Sauce beim Chinesen gegenüber und über kalorienarme Muffins. Ich zermalmte Kichererbsen und Datteltomaten zwischen den Zähnen. Dann schwärmten sie von den Erdbeeren aus eigenem Anbau.
„Hört ihr endlich auf mit dem Scheiß?“
Alle gafften mich an. Ich warf meinen Wrap in den Mülleimer und stopfte mir Dragee-Keksi vom Süßigkeitentisch in den Mund. Es krachte neurotisch.

Ich hing über dem Schnitzel, das meine Frau und ich bei Mjam bestellt hatten. (Es gab jetzt wieder Schnitzel.) Nebenbei lief eine Fernsehsendung, von der wir beide bestritten, dass wir sie jemals gesehen hatten.
„Du, ich glaub, ich schmeck was.“
„Hm?“
„Ich schmeck was.“
Sie löste den Blick vom Bildschirm. „Bist du sicher?“
„Ich glaub schon.“ Ich kaute, stoppte, kaute weiter. „Oder ich weiß nicht.“
Meine Frau stand auf, holte das Chiliöl aus der Küche und goss einen Schluck über mein Schnitzel. „Probier nochmal.“
Ich kostete. Dann zuckte ich mit den Schultern. Meine Frau schnitt ein durchtränktes Stück von meinem Schnitzel ab und aß es selbst. Ihre Augen tränten, sie wurde rot und spuckte das Stück in ihre Serviette. „Du schmeckst nichts.“
„Okay.“
Wir widmeten uns wieder unserer Fernsehsendung. Dasselbe Gespräch hatten wir schon fünfmal geführt.

Beim Geburtstag meines Bruders kam die ganze Familie zusammen. Jedes Jahr wünschte er sich Käsefondue. Dazu gab es Fleischbällchen, Prosciutto-Melonen-Spieße, Ofenkartoffeln und Maissalat. Ich brachte selbst gemachtes Knoblauchbrot mit. Mein Bruder fütterte meine Nichte, mein Neffe ließ sich flüssigen Käse übers Gesicht tropfen, meine Frau schnüffelte an den Ofenkartoffeln, mein Vater lachte mit vollem Mund und ich warf meinen Teller auf den Boden. Alles wurde ruhig.

Ich hörte auf zu essen. Ich nahm nur noch etwas zu mir, wenn mir der Kreislauf versagte. In der Arbeit konnte ich mich nicht mehr konzentrieren, ich hatte dauernd Kopfschmerzen und lag am liebsten auf der Couch. Auf dem Weg zum Einkaufen wurde mir einmal schwindelig, ich fiel ein paar Stufen herunter und wachte im Krankenhaus wieder auf. Meine Frau saß auf dem Stuhl neben meinem Bett. „Wenn du so weitermachst, verlass ich dich.“ Die Schwester schob einen Wagen mit Lauchrisotto und Schokoladenpudding als Nachspeise herein. Ich griff zur Gabel.

Wir saßen gemeinsam am Frühstückstisch. Es gab Rühreier. Ich schaufelte meine Portion in mich hinein. Dann stockte ich. Ich öffnete den Mund.
„Du schmeckst nichts.“
Ich klappte ihn wieder zu. Wir aßen weiter.

 

Christina König

 

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiTEXT | Patricia Malcher

In Stein gemeißelt

Hier bist du zu Hause.
Ein Satz aus ihrer Jugend, mindestens zwanzig Jahre nicht erinnert. Die Hände braun, verklebt von aufgeweichtem Erdreich, die Nägel schwarz, gesplittert, blutunterlaufen kommt er ihr wieder in den Sinn.
Hier bist du zu Hause.
Ihr Vater hatte den Kopf geschüttelt, damals, als sie die Tage bis zum Abitur zählte, um anschließend zu verschwinden, endlich dem Dorf den Rücken zu kehren.
Sie selbst hatte nur türenknallend das Haus verlassen.
Nun drückt sie, gräbt, hält fest. Die Straße, die Erde, sie rutschen.
Fundament weggeschwemmt, schießt es ihr durch den Kopf und nun ist es die Kindheit, an die sie denken muss. Reime, Verse, rhythmisch geklatscht. Mit den Dorfkindern und Schulfreundinnen. Ene mene meck.
Jetzt also die Erde feucht und klebrig, als kleines Mädchen geliebt, ideal zum Bau von Burgen und Schlössern, von Prinzessinnen bewohnt und Stöckchen-Rittern gestürmt.
Damals, als das Dorf noch genügte und die Sehnsucht nach Städtischem in den Kinderschuhen steckte.
„Hilfe“, brüllt sie, während sie brusttief im Wasser versinkt, brüllt es bereits seit einigen Minuten, „Hilfe!“
Doch obwohl sie schreit, ohrenbetäubend schreit, das eigene Trommelfell foltert, hört sie niemand. Ihre Schallwellen versickern in Lehm und Regen und Flut und Gestrüpp.
Ein Schuh und ein Fahrrad und Frau Wagner strömen vorbei, den Alltagskittel um die Beine gewickelt, eng und verdreht.
Wie hinderlich, denkt sie, doch Frau Wagner stört es nicht, kein Versuch sich zu befreien, stattdessen ein Weiterströmen, kopfunter, ein Abprallen und Anecken an einem Postkasten vom Ende der Straße. Obgleich – endet die Straße jetzt nicht hier, am eigenen Grundstück?
Nichts ist klar in diesem Moment, weder das Wasser noch die Umstände, die Eigentumsverhältnisse, die Nachbarschaft, die Anzahl der Familienmitglieder.
Ist das ihr Sessel, samtig rot, der dort auf und ab schaukelt? Einladend der Eindruck, zum Ausruhen, lesen, Augen zu, Augen auf und endlich aufwachen, noch trunken vom Albdruck, mit sauberen Fingernägeln, intaktem Trommelfell, trockenen Füßen. Doch schon ist er untergetaucht, im Tante-Emma-Laden, der eigentlich Frau-Wagner-Laden heißen müsste, der nicht mehr dort steht, wo er stand, geschluckt wurde, nicht von einer Großhandelskette, sondern von der Wucht des Sturzbaches. Der Fluss ist es, der sich ihr kleines Dorf einverleibt, es schon immer würgt wie eine Schlange und nun, gemeinsam mit dem Dauerregen, mitsamt Knochen verspeist. Ein kleiner Bachlauf ursprünglich, so sagte der Lehrer stets, aus dem Keller eines Fachwerkhauses entsprungen. Mehr ist es nicht, und wo soll sie morgen Brot und Milch einkaufen?
Hier bist du zu Hause.
Mit Edding hat sie den Satz des Vaters seinerzeit auf die Rücklehne des Schulbusses geschrieben. Schwarzer Filzstift auf violett-grünem, blau-grau schillerndem Polster.
Das D von du umrahmte das Loch im Sitz, das irgendein Jugendlicher auf einer der täglichen Fahrten zur Oberschule hineingeknibbelt hatte. Gelber Polyester flockte aus dem Bauch des Buchstabens hinaus. Bereits einige Tage später war der Satz kommentiert. Ein stummes Schreibgespräch pendelnder Schüler.
Home sweet home, stand dort, Scheiß drauf, daneben No Future, Alles wird gut und Fuck off. Dazu der gewohnte Penis, krakelig und überdimensioniert, auf das Loch und die Füllung und das D und das du ejakulierend.
Jeder, den sie kannte, träumte damals davon, das Dorf zu verlassen. Dauerhaft. Nicht nur bis 19 Uhr 38, am Wochenende zwei Stunden länger. Der Bus war die einzige Möglichkeit, aus dem Alltag auszubrechen. Kein Hinaus-in-die-Welt-gehen ohne ihn. Die Ausgangssperre begann und endete an der Haltestelle. Zehn Kilometer entfernt schon die große, weite Welt. Weg. Einfach nur … weiter … Hauptsache … weg. So schnell es irgend ging, dem in Fels gemeißelten Lebensweg entfliehen, dem Familienhof, der Verwandtschaft, den verstaubten Lebenszielen vorheriger Generationen. Provinziell die schlimmste Schublade, die vorstellbar war.
Sie hört auf zu brüllen, erkennt die Sinnlosigkeit. Ihre Hand rutscht ab, verliert den Halt. Kurz taucht sie unter. Ein Stück Heimat schwappt ihr in den Mund. Es schmeckt nach Sand, Mörtel, nach Kalk und knirscht zwischen den Zähnen. In den Wangentaschen raut es die Schleimhaut auf, krümelig und bitter.
In Höhe der Kapelle ist ein Baum gekippt, ragt in das Hochwasser hinein, an der Krone die Sauerkirschen schon rot und prall.
Am Stamm bekommen die Finger Griff, die Füße Tritt. Sie kann verschnaufen, den Hals recken. Die Früchte in greifbarer Nähe.
In diesem Sommer werden es die Vögel sein, die ernten, denkt sie, nachdem Michi seine Frau hat sitzenlassen mit Kirschen, Kleinkind und Katzenklappe und in die Stadt gezogen ist. Michi, der noch nie was taugte und dieser Tage statt Kirschen zu pflücken in einem Zwei-Zimmer-Appartement sitzt, allein, so hört man jedenfalls, Fenster zum Hof, den Kopf voller Hirngespinste. Mit Mitte vierzig das Dorf verlassen, denkt sie und weiß, dass etwas nicht stimmt, mit diesen Kirschen, mit ihrer Logik, mit Vaters Satz, mit der Natur.
Der Lehm trocknet. Langsam beginnt er, sich zusammenzuziehen, kratzt und klebt ockerfarben auf der Haut. Die Zehen sind taub, das Wasser hat alles Gefühl ausgeschwemmt.
Sie sieht Toni und Heinz, für deren Gastwirtschaft sie die Buchführung macht. Sieht die Brüder hilflos vor ihrem Eigentum stehen, die Sandsäcke hüfthoch vor Kellerabgang und Haustür gestapelt.
Sie sieht Sophie, der sie Nachhilfe in Englisch gibt, und die das Dorf genauso hasst, wie sie selbst damals. Sie sieht das Mädchen mit einem Bündel Decken in der Hand, von Tür zu Tür rennen. Sophie, die sich schwer tut, the impact of globalization on culture and communication zu verstehen und für die eine mangelhafte Note in der Nachprüfung ein weiteres Jahr Dorfleben bedeuten würde.
Sie sieht Menschen, die sie nicht mehr voneinander unterscheiden kann in ihrer Hoffnungslosigkeit und Angst und Verzweiflung. Menschen, deren Handeln und Denken und Fühlen sich in der Katastrophe gleichen.
Sie sieht Blicke aus übermüdeten Augen, morastige Hautfalten, Dreck so klebrig, dass doch jede Straße, jedes Haus, jedes Auto hätte pappen bleiben müssen.
Einige Meter entfernt hört sie erneut ein Bersten, ein Reißen, einen ohrenbetäubenden Lärm. Hört die Flut gegen Beton tosen, Masse auf Masse.
Sie kann sich nicht mehr halten, schnappt nach Luft, lässt los. Sofort verringert sich der Druck, die Natur gewinnt die Oberhand. Leicht fühlt es sich an, aus dem Leben erodiert zu werden, eigene Kraftanstrengung nicht vonnöten. Der Körper schwerelos umhüllt.
Ein letztes Mal bäumt sie sich auf, hebt ihr Gesicht über die Wasseroberfläche. Pustet, atmet, schluckt und spuckt. Sie kennt ihr Schicksal aus den Nachrichten. Hochwasser im Sudan, in Nigeria, in Indonesien. Immer weg, weit weg, doch niemals hier. Warum auch? Tausend Jahre ist es gut gegangen. Das Leben und Lieben und Weinen und Lachen, das Siechen und Sterben, das Gebären und Großziehen, das Anbauen und Ernten, das Siedeln und Melken, das Zimmern und Tischlern.
Sie sieht das gelbe Heck eines Busses neben sich, die Fahrtzielanzeige schwarz und leer. Sie folgt der Linie, fühlt sich leicht und unbeschwert. Eine Zeit lang treiben Mensch und Metall nebeneinanderher, bis der Bus an Fahrt verliert, trudelt und im Schlamm versackt.
Sie selbst rauscht vorbei.

 

Patricia Malcher

 

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiTEXT | Juliane Hahn

Ich, ich und das Lottchen

Der Mond fiel durchs vorhanglose Fenster und ließ meinen Bettnachbarn erbleichen. Ein kleiner Junge, der sich beim Spielen fast das Genick gebrochen hätte. Aber er war mit einer Gehirnerschütterung davongekommen. Jetzt lag er dort und röchelte im Schlaf, manchmal wehten auch ein, zwei gehauchte Worte von seinen anämischen Lippen.

Ich drehte den Kopf weg und versuchte, nicht da zu sein, indem ich mich dem Satz hingab, der mich ohnehin vollständig beherrschte. Er hing in meinem Hirn wie in einer Warteschleife, seit Stunden. La beauté sera convulsive ou ne sera pas. Da fehlte noch irgendetwas in der Mitte, sie würde außerdem verschleiert und magisch sein, die Schönheit, so ähnlich jedenfalls hatte Breton es formuliert, als er den Surrealismus ausrief. 1924, sogar die Jahreszahl stand klar vor mir. Den Satz selbst habe ich nie verstanden, allein das Wort konvulsivisch. Die Schönheit zuckend, verkrampft, ein Krampf. Jetzt hatte mich dieser Satz, so absurd es klingt, mitten aus dem Leben gerissen und hierher katapultiert, ins Krankenhaus. Er war zu mir zurückgekommen, damit ich endlich das vollenden konnte, was ich musste. Mein Lebenswerk. Eine Installation, die alle Künste auf sich vereinigen würde, Skulptur, Malerei, Film, vielleicht sogar Poesie als eine Art integrierter Text, eingearbeitet in das hauptsächlich als Bilderfolge geplante Video. Noch lag alles vor mir. Mein Schaffensdrang hatte wieder Blut geleckt, ich war dabei mich aufzurappeln. Neue Bildwelten zu erfinden, Ästhetik, Schönheit. Das war es, was ich so dringend brauchte. Für alles, was ich berührte, für mich selbst, für den Durchbruch. Sogar dieser Gips, der meine ganze rechte Seite vom Schulterblatt an bis hinunter zu den Zehenspitzen verbarg, hatte etwas Ästhetisches. Über zehn Knochenbrüche! Die Ärzte waren beeindruckt gewesen. Voller Interesse hatten sie mich untersucht, als wäre ich ein faszinierendes Objekt, ein Wunderwerk. Währenddessen hatte ein Assistent etwas von Autounfall gemurmelt, Drogenmissbrauch eventuell, ich blieb ruhig, meine Erinnerung leer.

Am nächsten Morgen war der Junge verschwunden. Kurz vor der Visite schoben sie den Neuen herein, ein älterer Herr mit Schnauzbart und verkrebsten Stimmbändern. Zu sprechen war ihm nicht möglich, so dass er zur Begrüßung sehr heftig nickte und mich dabei unverwandt ansah; türkisblaue Augen, wie das Meer in Ferienkatalogen. Ich grüßte zurück, wobei ich darauf achtete, nicht zu viel Freundlichkeit zu zeigen, um einer Verbrüderung von Anfang an entgegenzuwirken. Abstand war wichtig, gerade jetzt.

Später die Visite. Meine Ärztin trug eine schwarze Hornbrille und beugte sich lächelnd zu mir herab. Ein Medizinerlächeln, ich glaubte ihr nichts. Sie wollte reden. Ob ich Bezug zu Drogen hätte, ob ich mich an das Fahrzeug erinnerte, an den Unfall selbst, den Aufprall vielleicht. Und meine Familie, ob sie bereits informiert worden sei?

Charlotte. Plötzlich fiel sie mir ein. Ich hatte lange nichts von ihr gehört. Sie war jetzt vielleicht sechs oder sieben, ein Schulkind. Das Lottchen. Abgesehen von den üblichen Babyfotos hatte ich nur ein Video mit ihr gedreht. Damals war sie erst ein knappes Jahr auf der Welt und konnte noch nicht laufen. Als Geisha verkleidet hatte ich sie an den Schrank gelehnt wie eine Puppe und ihrem Gebrabbel synchron einen Text unterlegt - über Liebe, Geld, Genuss, eine Geisha eben. Eigentlich war es ein scharfer kleiner Film geworden, aber Anja rastete aus. Das wäre Kindesmissbrauch und widerlich und die Kunst könne ich mir sonst wohin. Ich war froh, als sie später mit dem Kind auszog. Denn je älter das Lottchen wurde, umso mehr Schrecken verbreitete es. Jedes Mal, wenn ich in ihr Gesicht blickte, bemerkte ich Linien und Formen, die auf mich zurückgingen. Ihre Nase zum Beispiel und die Form ihrer Oberlippe. Erblasten, die ich ihr zugeschoben hatte, ohne es zu wollen. Ich hatte meinen dicklichen Körper nie haben wollen, diesen fleischigen Mund. Diese viel zu stark gebogene, unförmige Nase. Sie hatte mir damals leid getan, das Lottchen, und auf grausame Weise hatte es mich geekelt, sie zu sehen, uns beide zusammen, das ging einfach nicht.

Zehn vor sechs. Die Schwester setzte mir ein Tablett mit Schonkost vor, eher unappetitlich: Selleriesalat in weißliche Kuben geschnitten. Ich verzehrte ihn mit asketischem Gleichmut, ebenso wie mein Zimmernachbar. Überhaupt schienen Askese und Demut die Koordinaten zu sein, auf die es momentan ankam. Dies wertete ich als Zeichen für die Schwere meiner Krankheit, welche mir zugleich eine umso strahlendere Rückkehr ins Leben, in die Kunst versprach. Je tiefer unten, desto höher hinauf. Voller Vorfreude senkte ich mein Kopfteil ab, da sah ich sie. Anja. Charlottes Mutter. Sie lehnte lässig an der Wand direkt neben dem Fernseher. Noch immer trug sie ihr Haar aufgetürmt wie eine Plastik, ein haariger Widerstand, der die Luft zerteilte.

Familienbesuch, sagte sie trocken. Ich antwortete nicht.
Wie lange willst du dich noch krank stellen?
Ist das dein Mitleid?, fuhr ich sie an. Zehn Knochenbrüche, mein Körper ist zerbröselt.
Zerbröselt, wiederholte sie höhnisch. Dann müsstest du eigentlich dein Ziel erreicht haben. Physische Auflösung, Immaterialität, Reinheit der Kunst, blabla.
Ich blickte an mir herunter. Der Gips sah tatsächlich wie ein Gebirge aus, unter dem ich verschwand. Sie war gekommen, um mich zu verletzen. Nach so vielen Jahren. Ich versuchte, mich zu konzentrieren.
Wieso bist du gekommen?, fragte ich schließlich. Und wo ist Charlotte?
Sie neigte leicht den Kopf, und ich meinte einen kleinen Vogel zu sehen, der dort in ihrem Haarturm nistete. Stille trat zwischen uns.
Glaubst du wirklich, du wirst diesen Ort gesund verlassen? Glaubst du wirklich, du wirst so sterben können?
Ja, wo ist sie denn?, schrie ich laut. Wo ist das Lottchen?
In diesem Moment regte sich mein Zimmernachbar, wir mussten ihn geweckt haben. Ich wollte ihn beschwichtigen, aber er blickte mich böse an. Geh endlich los, sagte er, geh sie suchen. Das sagte er, obwohl er gar nicht sprechen konnte, wegen seiner Stimmbänder.
Erschöpft fiel ich zurück aufs Bett. In diesem Krankenhaus war ich nicht mehr sicher. Ich litt, Knochenbrüche und Halluzinationen. Und selbst wenn ich mir alles nur einbildete: Dass ich sie suchen musste, mein Kind, mein eigen Fleisch und Blut. Und dass man mir Hypochondrie vorwarf, Feigheit, Verantwortungslosigkeit – große deutsche Worte, wie abstoßend. Dieser Ort war voller Täuschungen, und die einzige Wahrheit, die es jetzt noch gab, war Charlotte. Sie musste ich finden, irgendetwas bedeutete es doch, das Band der Gene.

Mühsam erhob ich mich und schlich am Schwesternzimmer vorbei den Gang hinunter. Meine Glieder spürte ich kaum, ganz offensichtlich war ich kerngesund und frei. Lautlos öffnete sich die automatische Glastür, die von der Wartehalle im Erdgeschoss ins Freie führte. Der Pförtner verharrte starr vor der Glotze, in einen Actionfilm aus den Siebzigern vertieft, während ich den Parkplatz überquerte. Ich folgte der Straße, die hinter dem Gelände weiterführte, wanderte ins Dunkel, irgendwohin, bis die Lichter der Stadt sich auflösten.

Die Weite der Landschaft umfing mich, es war, als geriete ich mit jedem Schritt, den ich über unbestelltes, rohes Feld stolperte, tiefer in ihren Bann. Der feuchte Boden zog mich förmlich an, und ich erschrak, als ich mein eigenes Schnaufen bemerkte, schnell, kurzatmig, laut. Wo sie sich wohl aufhielt, überlegte ich, während ich mich umwandte: Felder, weiter hinten Wiesen, die sich an den Hang schmiegten, ein Zaun, ein paar wenige Bäume, Sträucher. Meine Knie zitterten, ich musste mich hinlegen, nur einen winzigen Moment. Die aufgewühlte feuchte Erde würde mir Kühlung verschaffen; so machte ich es mir bequem, während ich den Sinn dieser Suche geradezu physisch empfand. Ich würde das Lottchen finden, sie war der Schlüssel zu mir, der letzte, der mir noch geblieben war, und wie im Märchen musste man nur den Zauberspruch kennen. Ich breitete die Arme aus, um meinen Körper in die Länge zu ziehen, so weit es ging. Vielleicht gelänge es mir, mich so zu dehnen, dass ich annähernd zwei Meter groß würde, vielleicht sogar größer. Wie eine Vogelscheuche. So würde sie mich leichter finden, falls ich zu schwach sein sollte. Sie würde auf mich zukommen, sehen, dass ich auf sie gewartet hatte. Feuchtigkeit drang von unten durch meinen Bademantel, während meine Hände die Erde abtasteten, um mich zu vergewissern, dass ich es war, der hier auf dem Feld lag, ich – bis mich ein tiefer Schlaf fortnahm.

Plötzlich Licht, Stimmen, das Klacken einer Tür. Jemand hat den Raum betreten, gleich steht er vor mir. Ich hebe abwehrend die Hand, bin krank, habe genug, da sehe ich die braunen Flecken, Altersflecken. Das muss eine Verwechslung sein, diese Hand ist uralt, vielleicht achtzig oder noch älter. Papa, flüstert die Frau; sie ist jung, sie setzt sich auf die Bettkante. Weint. Ein lautes, unbeherrschtes Weinen, das mich einhüllt, als wäre es ein Teil von mir. Irgendwie angenehm. Die Schönheit der Konvulsion, ist es das? Sie hat sich nach vorne gebeugt, zu mir hin, fast liegt sie auf mir. Ich möchte den Arm heben, nur ein Zeichen, aber es ist unmöglich. Ich habe mich schon entfernt und die Distanz wächst. Und zugleich die Schönheit, so scheint es, denn sie – das habe ich früher mal gelesen – nimmt man von ferne umso deutlicher wahr.

 

Juliane Hahn

 

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiTEXT | Katharina Forstner

Regentinnenschaft

Die Königin frauscht waltet regiert:
108 m² Wohnfläche und einen kurzgemähten Rasen
zur Miete. Die zahlt sie an den Mann.
Die Königin besitzt: einen Thermomix einen Vibrator ein Auto. Den Thermomix besitzt sie auf der Kücheninsel, den Vibrator in der Sockenschublade, das Auto unter dem Carport. Die Königin fährt SUV. Das Schwarz glänzt in der Sonne, die Katze liegt auf der Motorhaube.
Die Königin weiß, dass sie glücklich ist. Ich bin glücklich, denkt sie
als sie in den Wagen steigt. Die Katze flüchtet beim Schlagen der Türen. Das Auto schnurrt aus der Einfahrt. Die Abendnachrichten säumen den Weg in die Arbeit.
Die Königin pflegt: 25 Wochenstunden für 1700 brutto auf der Neurologischen.
Dazu braucht sie: orthopädische Schuheinlagen gegen den Hallux Valgus. Eine junge Kollegin für die Eingaben am PC. Eine Tafel Schokolade für die Seele.
Hier dauert die Nacht zwölf Stunden und 24 Betten lang. Auf dem Heimweg wird sie zweimal angehupt: Die Ampel ist grün.
Die Schlüssel klimpern. Die Schüsseln klirren. Trockenfutter rieselt. Die Königin duscht und stellt sich nicht auf die Waage. Im Spiegel betrachtet sie Bauch und Haaransatz. Sie ist weiß gekrönt und muss bald nachfärben. Ihr Körper ist ein halbes Jahrhundert alt. Er hat eigene Zeitrechnungen erschaffen: 25 20 17 Jahre seit dem Urschrei. Das ist jährlich wert: Gutschein für drei Mal Wäsche aufhängen. Gutschein für einen Tag nicht lästig sein. Gutschein für einmal essen gehen. Die Königin wurde zur Mutter gekrönt.
Diese Krone ist mein Glück, sagt sie zum Spiegelbild und legt sich ins leere Doppelbett.
Die Königin hat gelernt sich zu kümmern um: drei Kinder zwei Katzen einen Mann. Den ist sie losgeworden. Jetzt hat sie einen anderen. Den neuen König statt dem alten.
Zu Mittag wird der neue König nach Hause kommen, deswegen schläft die Königin nur bis zwölf und wärmt das Essen. Um halb eins schreibt sie dem Mann: Wo bleibst du so lang?
Wo warst du so lang? Das Essen ist schon kalt geworden. Setz dich nieder. Ich nehme den kleineren Knödel. Der ist mir zerfallen. Willst du noch einen Schöpfer? Die Soße ist nichts geworden, zu viel Schlagobers erwischt. Hast du eh genug gehabt? Noch einen Kaffee? Kuchen habe ich auch noch.
Der Mann nimmt Platz auf der Eckbank und das Besteck in die Hand. Einen Bissen vom ganz gebliebenen Knödel. Er nimmt gerne. Er nimmt Liebe wie einen Blumenstrauß.
Die Königin gibt gerne. Das macht sie glücklich. Du machst mich glücklich, sagt sie dem Mann und springt auf um den Geschirrspüler auszuräumen.
Jetzt setz dich mal hin, sagen die Kinder immer zu ihr. Bleib doch am Tisch. Wenn sie mal da sind zwischen ihren Aventuiren.
Die Königin ist ihr Leben lang gelaufen: dem Läuten der Patienten nach, auf Eltern- – korrigiere – Müttersprechtage, zum Hofer zum Spar zum Fußballturnier laufenden Siebenjährigen zuschauen.
Der Mann steht auf und geht gemütlich: wieder in die Arbeit die Enkel besuchen seinem Freund Haus bauen helfen. Das Kaffeehäferl lässt er stehen.
Die Königin putzt schrubbt tuscht sich die Wimpern. Spricht mit den Katzen. Die Katzen sprechen nicht zurück. Bückt sich im Schlafgemach des Sohns nach Unterhosen und sagt: Das letzte Mal räume ich hier auf. Das Schlafgemach spricht nicht zurück. Ruft bei der Tochter an und erwischt nur die Mailbox. Die Mailbox spricht nicht zurück. Der andere Sohn hebt ab und will zum Essen kommen, morgen. Die Königin wird gebeten. Der Königin wird gedankt. Der Sohn spricht von seinen Weihnachtswünschen. Die Königin spricht nicht zurück.
Sie liest gießt sprießende Tomaten. Der Schlauch und die Augen tropfen.
Die Königin wartet: dass der Mann zurückkehrt die Kinder sie besuchen die Himbeeren reif werden
wartet: dass es heimkommt, ihr Glück.

 

Katharina Forstner

 

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

 


freiTEXT | Simon Gottwald

nevermore

Da fliegen die Worte, rabenschwarz auf grauem Papier. Seit Stunden steht der Mann auf der Brücke und lässt sie aus einem schier unerschöpflichen Vorrat auf die Straße regnen.
Das Neonlicht der Reklame schneidet ihnen die Flügel ab, scheint es.

Wir sind doch alle Rabenkinder unglücklicher Eltern.

Wagen fahren keine mehr; die Polizei hat den Verkehr umgeleitet. Schaulustige stehen in dicken Trauben an den Absperrungen. Manche schütteln den Kopf, als hätte die Fassungslosigkeit ihr Genick gelockert. Andere heben eines der herbeigewehten Flugblätter auf, runzeln die Stirn, nachdem sie es überflogen haben, und werfen es wieder weg.
Der Mann will mit niemandem sprechen. Solange die Beamten auf Abstand bleiben, ist er eine Schatulle aus Schweigen. Jedes Mal, wenn sie sich ihm nähern, droht er, zu springen.
Fröhlich leuchtende Bildschirme reproduzieren die Szene unendlich, wie gegeneinandergestellte Spiegel. In der Menge diskutieren die Menschen, was der Mann da wohl mache. Eine Werbeaktion, meint einer, das ist ein Protest, weiß ein anderer, wogegen, er zuckt mit den Schultern.

Eine brechende Eierschale gibt zwei Welten frei. Manchmal ist das Nest geflochten aus einander verschlingenden Schlangen oder gebaut aus glühenden Kohlen. Das ist dann Pech. Mit fremden Flügeln kann man nicht fliegen.
Wo andere mit Schmuck oder Tand vollgestopft sind, bergen manche Schatullen eine Spieluhr, die eine seltene oder eine bekannte Melodie spielt, berührt man sie nur vorsichtig.

Vor grauem Papier ist der Asphalt kaum noch zu sehen. Ein Schottergarten aus Worten liegt auf der Straße.

Aus den Menschenmassen steigt eine Stimme auf. Jemand erkennt den Mann. Das ist Narcissus Hyde, sagt er. Der Name springt von Mund zu Mund, schlüpft in kleine Tastaturen und tänzelt durch die Luft wie ein Irrlicht.
Werbeaktion, wiederholen jetzt andere, Kunst, widersprechen einige. Zerknitterte Flugblätter werden als Beleg für beide Thesen weitergereicht.

Der Pelikan nährte seine Jungen von seinem eigenen Fleisch.

Haben Sie auch gehört, was man neuerdings über ihn sagt, wispert jemand. Ich kenne ihn gar nicht, lautet die Antwort. Alles nur Gerüchte, wird ergänzt, alles nur Gerüchte, bis es Beweise gibt. Das ist er gar nicht, mischt jemand sich ein, Sie verwechseln ihn.

Wie hauchdünne Spiegel aus Licht sehen die Zettel aus. Sie stürzen, als wäre das Papier zu schwer für sich selbst. Vielleicht sind es auch die Worte auf ihnen, die sie nach unten ziehen, oder die Gedanken, zu denen diese sich verschlungen haben.

Verstehen Raben, was sie sagen, wenn sie menschliche Worte verwenden?
Und wie ist das eigentlich mit Menschen?

Was halten Sie davon, fragt einer seinen Nebenmann. Muss der das von da oben machen, antwortet der. Nein, ich meine das hier, sagt der Erste und zeigt ihm ein Flugblatt, auf dem ein Schuhabdruck aus Straßenschmutz prangt. Die Linien sind deutlich zu erkennen.
Frechheit, so etwas noch zu verteilen, meint der Zweite.
Der Erste knüllt den Zettel zusammen und wirft ihn weg.

Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein‘ Fuß, hat ein‘ Zettel im Schnabel, von der Mutter ein‘ Gruß.

Unermüdlich regnet das Papier, so, als würde der Mann aus der Unendlichkeit schöpfen. Man ist sich nicht einig, ob er wirklich Narcissus Hyde ist. Man diskutiert über die Zettel. Inzwischen haben die Menschen festgestellt, dass auf jedem einzelnen etwas anderes steht. Manche hat er sogar von Hand geschrieben, sehen Sie mal, das kann er gar nicht alles alleine gewesen sein, warum denn nicht, die Handschrift ist eine ganz andere, sehen Sie das nicht, nein das ist die gleiche, sie verändert sich nur, weil er so viel geschrieben hat.
Wissen Sie, ich glaube, ich habe mich geirrt, so etwas würde Narcissus Hyde nicht schreiben, doch ich denke schon, waren Sie nicht eben noch der Meinung, dass …

Wir sind alle Rabenkinder. Über unzählige Generationen lässt unsere Geschichte sich auf ein einzelnes gesprenkeltes Ei zurückverfolgen, aus dessen dampfender Ursuppe das Leben entstand. Flossen, Beine, Flügel und Arme differenzierten sich aus.
Ein in Plastik erstarrtes Fossil, Spiegel einer in Öl gemalten Welt. Irgendwann werden Städte, Beton und Abgase nur noch als unverständliche Albträume existieren.

Der Mann, der vielleicht jenen Namen trägt, von dem keiner der Zuschauer weiß, ob er ein Pseudonym oder der ihm von seinen Eltern gegebene ist, sieht auf die Menschen herab. Es könnte Enttäuschung sein, was sich auf seinen Zügen abzeichnet, oder kaum verhohlener Ekel. Manche der Menschen halten seinen Gesichtsausdruck für einen der Neugierde, andere bemerken gar nicht, dass er ein Gesicht hat.
Ein älterer Mann in den hinteren Reihen keift wütend vor sich hin, wobei er so sehr mit dem Kopf zuckt, dass die über die Glatze gekämmten langen Strähnen sich lösen und wild vom Haarkranz abstehen. Unglaublich, dass der den Verkehr so beeinträchtigt, teeren und federn sollte man den, ruft er. Manche stimmen murmelnd zu, anderen missfällt die Forderung offensichtlich. Vielleicht denken sie an die Lebensbedingungen in den Legebatterien oder daran, dass die Dinosaurier Federn hatten.

Nachdem er stundenlang Worte in die Stadt entlassen hat, beginnt der Mann, die Kartons von der Brücke zu werfen. Noch immer fast randvoll, platzen sie unten mit lautem Knall auf und ergießen sich über das Zettelfeld.
So fasziniert sieht er den fallenden Kartons nach, so erleichtert nimmt er den Aufprall jedes einzelnen zur Kenntnis, dass man denken könnte, dieses Finale sei der eigentliche Zweck der Inszenierung und alles andere sei nur eine belanglose Fingerübung gewesen.
Der Polizei entgeht nicht, dass der Mann sie nicht mehr beachtet, dass er nichts anderes als die Kartons und die aus ihnen schwemmenden Zettel wahrnimmt.
Zwei Polizisten rennen auf einen Fingerzeig zu dem Mann und stürzen sich auf ihn. Er wirft gerade einen Karton, als sie ihn packen und ihm die Arme auf den Rücken drehen wie brechende Rabenschwingen. Obwohl er sich mit aller Kraft wehrt, haben sie ihn rasend schnell zu Boden gebracht und fixieren seine Hände.
Er gibt keinen Laut von sich. Röhren schütten Neonlicht über der Szene aus wie verdorbenes Saatgut. Die Polizisten heben den Mann vom Boden auf und stellen ihn auf seine Füße, als wäre er eine Vogelscheuche. Sein Gesicht glänzt, als würde er stark schwitzen.

Lieber Vogel, fliege weiter, nimm die Welt mit und noch mehr, nie wieder werd ich heiter, denn das Leben ist schwer.

Keiner der Zuschauer hat gesehen, wie er es geschafft hat, sich aus dem festen Griff auf seinen Schultern zu befreien, keiner, wie er die Fesseln an seinen Handgelenken gelöst hat. Auf einmal steht er auf der Brüstung und breitet die Arme aus. Dann legt er den Kopf in den Nacken, atmet einen Sonnenfleck aus und gibt dem Himmel einen Kuss.
Die Beamten können ihn nicht fassen, er ist wie in Öl gehüllt, seine Haut wie ein Panzer gegen die Welt.

Melodie im Bauch, gefüttert mit der Würmer Weisheit, jedes Wort ein telepathisches Tentakel, und Odin fehlte ein Auge.

Am nächsten Morgen rollt kein Verkehr, obwohl die Absperrungen nicht mehr da sind, die Schaulustigen verschwunden.
Die einzige Erinnerung an den Vorfall sind die Papierstreifen, mit denen die Vögel ihre Nester auspolstern.

 

Simon Gottwald

 

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiTEXT | Emil Fadel

Schlick

„Ich finde, wenn man auf das Wasser schaut, und nur auf das Wasser, dann sieht es fast aus als wären wir am Meer“, hatte er gesagt und sie hatte kurz nachgedacht und ihm dann zugestimmt, denn es sah wirklich so aus. Die Wellen, die an den Strand spülten, die kleinen Tang- und Algenfelder, die in den Wogen auf- und niederschwappten, die träge blaue Masse, die sich vor ihnen erstreckte – das alles hätte genauso gut auch das Meer sein können, in einer Lagune an der Adria, oder an einer der südfranzösischen Küsten. Aber es war trotzdem nicht das Meer, sondern der Gardasee, und da, wo normalerweise der Horizont das Wasser berührt, ragten Bergmassen in den Himmel. Sie nahm seine Hand und zeigte ihm, wie er sie halten konnte, um das gegenüberliegende Ufer zu verdecken, dann war es noch viel einfacher, nur das Wasser zu sehen, das Meer.

Wenn sie jetzt die Hand über das andere Ufer hält, dann sieht sie auch nur noch das Wasser, aber wie Meer fühlt es sich trotzdem nicht an. Der See ist trüb und schlickig und hat sich weit zurückgezogen, nur noch die Verfärbungen an den Steinen zu ihren Füßen lassen noch erahnen, wie hoch das Wasser einmal gestanden hat.

Es war ihr erster gemeinsamer Sommer gewesen, sie hatten eine ganze Weile hin- und herüberlegt, wo sie hinfahren wollten, aber weil es zu viele Orte gab, die sie gerne entdecken wollten, weil sie beide zu viel Rücksicht auf die Wünsche des jeweils anderen nahmen, waren sie zu keinem richtigen Schluss gekommen. Schließlich hatte eine ihrer Kolleginnen ihr den Gardasee empfohlen, weil sie oft als Kind mit ihren Eltern dorthin gefahren war, „da gibt es anscheinend auch einen tollen Vergnügungspark“ hatte sie ihm erzählt, direkt als sie an diesem Tag von der Arbeit nach Hause gekommen war. Das hatte ausgereicht, um ihn zu überzeugen und zwei Wochen später saßen sie in seinem Mitsubishi Eterna, der nach vier Jahren irgendwie immer noch neuem Plastik roch, und fuhren die Brennerautobahn hinunter. Sie waren beide vorher noch nie in Italien gewesen und sprachen so gut wie kein Wort Italienisch, aber er meinte, dass das schon kein Problem werden würde.

Sie hat kein Gefühl dafür, wie lange sie am Ufer gestanden hat, als nun der Hotelmitarbeiter hinter sie tritt und sie in holprigem Englisch darauf hinweist, dass den Gästen des BuonviaggoSpa von Seiten der Hotelleitung nicht empfohlen wird, sich längere Zeit im Freien aufzuhalten, jetzt, wo die Brände so nah sind. „Lasciami stare“, sie winkt ärgerlich ab und er verschwindet wieder, wahrscheinlich ein wenig überrascht darüber, dass diese offensichtliche deutsche Touristin mit dem Sommerkleid und dem Strohhut ihn plötzlich auf Italienisch anfährt. Natürlich weiß sie, dass er eigentlich recht hat, ihre Lungen brennen schon und ihr Hals ist ganz wund von dem scharfen Rauch, der hier überall in der Luft liegt. Aber ihr Zimmer mit der Lüftung und der Klimaanlage ist ihr noch viel mehr zuwider als hier draußen zu sein. Hotelzimmer können sich ganz schön furchtbar anfühlen, vor allem wenn man alleine ist.

Das kleine an der Durchfahrtsstraße gelegene Hotel, in dem sie nach langem Suchen abgestiegen waren, trug den Namen CASABLANCA in schönen, großen Lettern auf dem Dach und alles daran fühlte sich auch genauso an – auch für jemanden, der noch nie in Casablanca gewesen war. Ihr Zimmer war winzig und gefliest und von einer eigenartigen Kühle erfüllt, als sie eintraten und die Koffer auf die Betten warfen, um direkt unter die Dusche zu springen und den Schweiß der Fahrt loszuwerden. In der Ecke stand ein alter klappriger Ventilator, der sich sichtlich Mühe gab, die Luft im Raum in Bewegung zu bringen. Die Betten waren steinhart, als sie die Koffer nach der Dusche beiseiteschoben und auf den schneeweißen Laken miteinander schliefen und hinterher sagte er: „Willkommen im Urlaub“ und sie lächelte still in sich hinein, während er einschlief und der Ventilator in der Ecke vor sich hin ratterte.

Über ihrem Kopf ertönt aus der Ferne ein Rattern, das langsam lauter wird und als sie hochsieht, ist es ein Helikopter der Feuerwehr, der mit hoher Geschwindigkeit und nach unten gesenkter Nase über den See eilt, um am Berghang gegenüber eine große Ladung Wasser auf die Flammen fallen zu lassen. Sie sieht zu, wie die Wolke aus Tropfen auf die glühenden Skelette der Bäume niedergeht, wie eine gewaltige Dampfwolke aufsteigt und wie der Hubschrauber abdreht, um die nächste Ladung zu holen. Sie sieht auch, dass es nichts nützt. Die gelöschte Stelle lodert immer noch an vielen Punkten und hinter der anderen Flanke des Berges zeugen Rauchsäulen davon, dass sich weitere Brände nähern. Kopfschüttelnd geht sie einige Schritte am Ufer entlang, die Haufen von Tang, die der Sturm an Land gespült hat, vorsichtig übersteigend. Das Hotelpersonal gibt sich normalerweise Mühe, den Strand von allerlei Treibgut freizuhalten, aber seitdem man ohnehin nicht draußen sein soll, wurden die Säuberungsarbeiten eingestellt.

Das Seeufer in der Nähe ihres Hotels war malerisch, aber ziemlich überfüllt, weil direkt angrenzend ein großer Campingplatz lag, der jeden Morgen pünktlich um zehn eine gewaltige Menge badesüchtiger Wohnwagenbewohner aus seinen Pforten quellen ließ. Dennoch verbrachten sie die ersten Tage fast ausschließlich dort, im Wasser planschend wie Kinder, auf den heißen Steinen in der Sonne schwitzend, die Strandtücher nur als notdürftige Unterlage gegen den harten Untergrund, oder im Schatten der Bäume ruhend. Es war wunderbar. Sie war vorher nur an der Nordsee gewesen und hatte das ziemlich furchtbar gefunden, er hingegen hatte schon immer das Meer geliebt, und trotzdem fanden sie beide, dass das hier irgendwie genau richtig war. In diesem Sommer verliebten sie sich also nicht nur ineinander, sondern auch in den Gardasee.

„Der See stirbt“, denkt sie bei sich. Er liegt auf dem Totenbett und sie besucht ihn ein letztes Mal. Im nächsten Sommer wird es keinen Urlaub mehr hier geben, zumindest nicht für sie. Ohnehin ist es dieses Jahr einfach nicht mehr dasselbe gewesen, mit all den Bränden und ohne ihn. Es ist das erste Mal gewesen, dass sie alleine irgendwohin fahren muss, das erste Mal seit dreißig Jahren. Inzwischen ist sie am Ende des begehbaren Bereiches angekommen, hier endet der Strand – oder das, was davon übrig ist – und die Klippen beginnen, ins Wasser zu greifen. Hier an dieser Stelle haben sie gestanden, als sie ihm den Trick mit der Hand und dem Ufer gezeigt hat. Damals hat er gelacht und sie in den Arm genommen und ihr ins Ohr geflüstert, dass er sich so sehr auf diesen Sommer mit ihr freut und auf alle anderen Sommer, die danach noch folgen werden. Jetzt ruht er in der kühlen, dunklen Erde eines deutschen Friedwaldes und es wird kein Sommer mehr mit ihm folgen und vor ihren Füßen liegt der vertrocknete Kadaver einer Möwe, ein sandverkrustetes Elend, aus dem an allen möglichen Stellen Federn und grätenartige Knochensplitter ragen.

„Ich freue mich auch so sehr“, sagte sie und zerzauste sein von der Sonne hell gebleichtes Haar. Und zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte es sich auch so an, als würde sie es wirklich meinen, wenn sie das sagte.

Sie sieht den toten Vogel noch eine Weile an, dann dreht sie sich um und beginnt, den Hügel zurück zum Hotel wieder hinaufzusteigen. Oben kommt ihr schon ein Hotelmitarbeiter entgegengelaufen, genauso freundlich und gesichtslos wie der erste – oder ist es gar derselbe? Sie ist sich nicht sicher – und informiert sie, dass soeben ein Erlass der örtlichen Tourismusbehörde eingegangen ist. Das Hotel wird evakuiert. Die Brände kommen zu nah. Sie lassen sich nicht löschen. Der Ort wird aufgegeben. Kurz überlegt sie, was sie tun soll, und für einen Moment ist da die Verlockung, einfach zurück in ihr Zimmer zu gehen, sich aufs Bett zu legen und auf die Flammen zu warten. Dann fängt sie sich wieder und folgt dem emsig vorauseilenden Jungen in der Hoteluniform. Bei der Eingangspforte des Hotels bleibt er stehen und fragt, ob sie noch ihr Gepäck aus dem Zimmer holen möchte, der Shuttlebus könne solange warten. Sie dreht sich noch einmal um, sieht auf den See und strafft dann die Schultern. „Lascialo bruciare.“ Soll es doch brennen.

 

Emil Fadel

 

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>