freiTEXT | Carlotta Voß

Kerstin‘s.

Die Eier kommen um sechs, die Brötchen eine halbe Stunde später.
Eier: Sechs mal sechs, Bodenhaltung, direkt vom Hühnerbaron, der eigentlich ein Graf ist und ein Vermögen gemacht haben soll mit seinen Hochleistungshennen. Brötchen: In fünf großen Tüten vier Sorten, dazu Laugenstangen; oft sind sie noch warm: die Backstube ist gleich am Ortseingang.

Die Eier werden von Männern gebracht, die ständig wechseln, aber immer aus Osteuropa sind. Sie springen schnell aus dem Lieferwagen, die Fahrertür lassen sie offen, Kerstin hat das Geld schon bereitgelegt. Die Brötchen bringt Heiner, der seit zwanzig Jahren für Bäckerei Soltau ausfährt; er kauft immer auch den Tagesanzeiger und die BILD und dann stützt er sich auf ihrem Tresen auf und sie reden eine Weile, bevor er sich erst an den Kopf tippt, dann an die Tür klopft und seine Fahrt fortsetzt.

Kerstin schaltet dann das Radio ein und wischt die Krümel von gestern aus der kleinen Brötchenauslage. Sie prüft, ob alle Eierpackungen sechs weiße Eier enthalten, und fährt mit dem Staubwedel über die Ware in den Ladenregalen. In der Morgensendung reden sie über das Wetter und man kann Tickets zu einem Konzert gewinnen, wenn man anruft. Kerstin füllt das Bier im Kühlschrank auf. Er brummt an diesem Morgen besonders laut; sie rammt ihn kräftig mit ihrer Schulter. Manchmal verstummt er dann, heute nicht. Sie kann ihn nicht leiden; er verstopft ihr den Laden und blockiert die schmalen Wege, auf denen sie sich früher durch den Raum bewegt hat. Günstig aber war es, dieses eckige Monster; sie hat es von der Tankstelle Reimers übernommen. Die Leute tanken heute alle an der Autobahn.

Um sieben Uhr dreißig kommen die Grundschulkinder, denen kein Pausenbrot geschmiert worden ist. Sie sind noch still und verschlafen zu dieser Uhrzeit. Die Riesenrucksäcke auf den Rücken geschnallt, taumeln sie durch die Morgenluft wie ausgesetzte Astronauten. Sie kaufen hoffentlich die Mohnbrötchen und die Laugenstangen auf.

Wenn der letzte Nachzügler davongetrottet ist, raucht Kerstin die erste Zigarette. Sie steht dabei in der Ladentür und bläst den Rauch in die Morgenluft, die heute mildsommerlich ist, aber so frisch, wie sie es nur in Meeresnähe sein kann. Der weiß-schwarze Kater, der niemandem gehört, läuft über die Straße, auf der nur manchmal ein Auto fährt.
Kerstin holt sich einen Kaffee von oben und setzt sich auf ihren Stuhl; er hat über die Jahre die Form ihrer Schenkel angenommen. Sie hört noch einmal die Nachrichten, sieht im Laden umher, macht Rechnungen, geht auf Facebook. Sie hat sechs Benachrichtigungen seit gestern; sechsmal ein Like für ihr neues Foto, dreißig Likes sind es jetzt insgesamt für ihre neue Frisur, und außerdem ein Emoji mit Herzchen-Augen.

Kerstin hat kurze, graue Haare. Vor sieben Jahren, da schloss Bei Ute, der Friseur im Dorf, hat sie mit dem Färben aufgehört; davor war burgunderrot. Alle zwei Wochen musste nachgefärbt werden, sonst sah es unordentlich aus, nein, als habe sie lichtes Haar, denn aus der Entfernung scheint der weiß-graue Ansatz weiche Kopfhaut zu sein, die unter dem falschen Burgund hervorschimmert. Das verletzt Kerstins Stolz. Sie hat kräftiges Haar. Es war ihr bestes Pfund. Das ist dein bestes Pfund, hatte ihre Mutter immer gesagt, wenn sie ihr mit festem Strich die Haare bürstete und zu Zöpfen flocht.

Manchmal packt Kerstin die Lust auf Farbe, oft im tiefsten Winter oder im späten Sommer, dann lässt sie sich eine bunte Strähne färben, ein Farbtupfer im Grau. Er macht ihr gute Laune, wenn sie sich morgens im Spiegel ansieht. Seit drei Tagen hat sie eine neue Strähne und die Frisier-Azubine hat ein Foto von ihr gemacht, das Foto, das jetzt auf Facebook Likes sammelt.

Die Schwiegertochter von Frahms, die im letzten Jahr plötzlich sehr dick geworden ist, kommt herein und kauft Eier. Auf Facebook postet der Bestatter ein neues Gedicht. Es steht in weißer Schrift auf einem roten Sonnenuntergang über schwarzen Bergen. Der Bestatter dichtet viel und immer Trauriges, heute geht es um den Spätsommer und den Herbst, der kommen wird.

Die alte Maria von gegenüber holt drei Brötchen und eine Dose Sauerkraut mit Speck. Sie muss kurz verschnaufen und erzählt, dass ihre Tochter am Wochenende zu Besuch kommt. Als Maria weg ist, raucht Kerstin noch eine Zigarette; vom Schulhof her kommt Geschrei, es ist große Pause.

Kerstin spielt ein bisschen Karten am Computer. Dann fährt der Pastor in seinem kleinen roten Dienstwagen vor; er bringt, zusammengerollt, das Plakat für das Sommerfest der Kirche. Sie kleben es zusammen an die gläserne Ladentür, zwischen Tesa-Reste, die bunten Ecken längst abgerissener Aushänge und die Suchanzeige für den Kater von Familie Wolters, für den es wahrscheinlich zu spät ist. Der Pastor hat es eilig, weil er zu einem achtzigsten Geburtstag muss.

Um halb eins ist die Schule aus und der Ansturm kommt. Schnaufend stolpern die Kinderkörper in den Ladenraum; die Riesenrucksäcke stoßen an Türrahmen, Regale, gegeneinander, und branden schließlich gegen ihren Tresen. Dahinter, an der Wand, gestapelt auf drei langen Brettern, da ist das süße Gummizeug in milchigen, runden Plastikdosen.
Kupfermünzen verlassen mühsam Kinderhände; Kerstin pult Deckel ab, greift mit der linken Hand nach den weißen Papiertüten, mit der rechten nach ihrer kleinen silbernen Zange und los geht es: Drei Cola-Kracher, zwei Schlümpfe, eine weiße Maus, eine Schaumerdbeere, nein, doch nicht, kann ich doch lieber die Lakritzschnecke haben?

Manchmal beschweren sich Mütter, die Süßigkeiten würden nach Zigarettenrauch schmecken. Die Kinder beschweren sich nie. Sie verschwinden mit den weißen Tüten in der Hand in Paaren und Horden in den Sommernachmittag. Kerstin fegt den feinen Zucker zusammen, der auf den Tresen gerieselt ist, dann dreht sie das Schild an der Tür von Offen auf Geschlossen, zieht ihren Kittel aus und geht durch den Lagerraum nach oben. Manchmal nimmt sie sich eine der Dosensuppen aus dem Laden mit. Früher ist sie in der Mittagspause oft zum Friedhof gegangen. Jetzt zupft sie ein bisschen Unkraut im Garten. Vielleicht liest sie den Stadtanzeiger.

Vor zwei Jahren wurde der Laden dreißig Jahre alt, da gab es im Anzeiger einen großen Artikel. Der Journalist kam vorbei und stellte ein paar Fragen und machte ein paar Fotos. Zwei Wochen später sah sie sich selbst in schwarz-weiß entgegen: die Fäuste auf dem Tresen aufgestützt lehnt sie den Körper der Kamera entgegen; sie lächelt wohl ein wenig, kampfeslustig mehr als freundlich. Je länger sie das Bild ansah, desto mehr gefiel es ihr. Im Text drumherum ist von ihr als Manemann die Rede; der Nachname wurde ihr im Lesen sehr fremd, sehr gewichtig. Manemann eröffnete den Laden im Frühjahr 1989 nach dem Tod ihres Ehemannes. Er hatte vorher in den Räumlichkeiten Artikel für den Heimwerkerbedarf verkauft. Und: Bei Manemanns „Kerstin’s“ findet jeder, was er braucht: Batterien für die Taschenlampe, ein frisches Brötchen zum Frühstück, Zucker für den Kuchen, Zahnbürsten und Putzmittel. Auch der neue Bürgermeister kommt zu Wort: Er sagt, dass ,Kerstin’s‘ eine Institution ist, dass ihr Laden zur DNA unseres schönen Dorfes gehört und das ist, was Dorf ausmacht: Ein Raum der Begegnung. Kerstin hat den Artikel ausgeschnitten und gerahmt und im Laden aufgehängt.

Um halb vier kommen die Bauarbeiter von der Neubausiedlung, wo Häuser mit glänzenden blauen Dächern und weißem Putz entstehen. Die Bauarbeiter zahlen immer in bar, mit gefalteten Scheinen aus der Hosentasche, genau wie die Freiwillige Feuerwehr. Mit Karte zahlen die Mütter, die eine Stunde später Zucker oder Eier brauchen, weil das Kind gestern vergessen hat zu sagen, dass es morgen einen Kuchen in die Schule mitbringen soll, Jetzt wird es eben nur ein schneller Rührkuchen. Haben Sie Vanillin?

Kerstin hat Vanillin und Backpulver und Tütenhefe und Schokodrops und diese kleinen gläsernen Aromakapseln in der Sorte Bittermandel von Dr. Oetker, und auch geringelte Aufsteckkerzchen und ein paar Röllchen Zuckerperlen, rosa und gold. Backsachen verderben nur langsam und es macht großen Spaß, sie einzukaufen und sie im Laden anzusehen; Kerstin hat sie gegenüber von ihrem Platz aufgestellt, sodass ihr Blick darauf fällt, wenn sie aufschaut.

Manchmal nehmen die Mütter noch passierte Tomaten mit oder eine Buchstabensuppe aus der Tüte. Vor einiger Zeit fragte eine von ihnen: Haben Sie Kuskus?
Beim Frauenfrühstück in der nächsten Woche – einmal im Monat ist Frauenfrühstück im Gemeindehaus –, sagte Kerstin zu Christa, jemand habe bei ihr Kuskus gewollt. Sie erzählte eigentlich nur davon, um die Stille zu füllen, die immer eintritt, wenn man neben Christa sitzt; Christa sagt zu allem Ach, das ist ja interessant mit ihrer weichen Stimme, aber eigentlich scheint sie sich für nichts zu interessieren, nicht für Klatsch, nicht für die Nachrichten, nicht für Urlaub oder Gartenarbeit, nur für Fußball ein bisschen; sie geht mit ihrem Mann ins Stadion. Auch der Kuskus war für sie interessant, aber interessierte sie nicht weiter, doch zu Kerstins Glück hatte Helga alles mitangehört, und sie beugte sich weit über ihren Kaffee und sagte, Kuskus, das esse ihre Tochter manchmal, so als Salat, mit Gurke und Tomaten. Und Pfefferminze ist auch drin. Das soll ganz gesund sein.

Am nächsten Morgen googelt Kerstin Kuskus. Couscous oder Cous Cous, steht da, ist ein Grundnahrungsmittel der nordafrikanischen Küche. Die Grundlage besteht aus befeuchtetem und zu Kügelchen zerriebenem Grieß aus Hartweizen, Gerste oder Hirse.

Grieß also, sagt Kerstin laut in den Laden hinein, zu den rosa Zuckerperlen. Das ist ja bloß Grieß. Grieß sollte sie noch dahaben. Sie kramt im Nudelregal, und wirklich, ganz hinten findet sich eine Packung Grieß, der Karton ist ein wenig verblichen, die darauf abgebildeten Nockerl in klarer Brühe sehen gräulich aus. Kerstin blickt auf das Ablaufdatum; der Grieß läuft im nächsten Monat ab. Sie nimmt ihn mit zu ihrem Tisch und verpasst ihm ein rotes Etikett und stellt ihn in die große Kiste mit der reduzierten Ware. Da liegt er bis zu seinem Ablauftag und Kerstin wirft ihn weg. Am selben Tag fährt sie auf Einkaufstour in den großen Supermarkt in der Stadt. Er ist gerade neu gemacht und vergrößert worden; alles glänzt und die gläsernen Türen der Kühlschränke öffnen sich automatisch, wenn man sie antippt, und schließen sich wieder von selbst. Kerstin denkt, dass die alten Leute sich hier doch kaum noch zurechtfinden können; dasselbe hat sie dem Journalisten gesagt.

Der Kuskus steht in der Ecke für ausländische Lebensmittel. Auf den Verpackungen mancher Marken reiten Männer auf Kamelen unter Palmen in eine Wüstenlandschaft hinein. Kerstin studiert die Zutatenliste, auf der nur Hartweizengrieß steht, und geht weiter. Der richtige Grieß ist wie immer beim Mehl; die fotografierten Nockerl sehen gelb und appetitlich aus und sind mit gehackter Petersilie garniert. Kerstin nimmt zweimal Grieß und schiebt den Wagen an die Kasse. Die Schlange ist sehr lang, an allen Schaltern stehen die Leute weit in den Gang hinein und lange geht es nicht vorwärts. Kerstin sieht auf ihre Grießpackungen und denkt an den Kuskus. An Kasse eins hat die junge Frau hinter der Kasse ein technisches Problem und die Kollegen von Kasse zwei und drei unterbrechen ihre Arbeit, um ihr bei der Lösung zu helfen. In den Schlangen seufzt man. Kerstin seufzt und kaut an ihrem Daumennagel. Verstehen Sie sich als Unternehmerin?, hat der Journalist gefragt. Da hat sie gezögert und dann Ja gesagt. Im Artikel ist davon nicht mehr die Rede gewesen. Unternehmerin-Sein heißt natürlich: mit der Zeit zu gehen. Aber es heißt doch auch: auf Bewährtes setzen.

Grießnockerlsuppe, das gab es zu ihrer Konfirmation, vor dem Braten. Manfred, glaubt sie, hat gerne Grießnockerlsuppe gegessen, aber vielleicht irrt sie sich. Ihr fällt ein, dass sie niemanden fragen kann, ob sie sich richtig oder falsch erinnert, weil da niemand ist, der sich besser daran erinnern könnte als sie oder sich überhaupt noch an Manfred erinnert.

Es ist zu warm in dem Supermarkt und aus den Lautsprechern kommt zum sechsten Mal dieselbe Werbesingle, und weil sie alles in diesem Moment lieber täte, als auf ihren schweren Beinen zu stehen und auf diese Petersiliensprenkel auf den Grießpackungen zu blicken, lässt Kersten ihren Wagen in der Schlange stehen, die sich ja ohnehin nicht vorwärtsbewegt, und geht zum Regal für ausländische Lebensmittel. Wir öffnen Kasse fünf für Sie, heißt es da plötzlich aus den Lautsprechern und also wird nun Bewegung in die Schlangen kommen; Kerstin greift dreimal Kuskus und dann ist sie zurück bei ihrem Wagen, der natürlich schon beiseite geschoben worden ist; sie schwitzt und stößt ihn mit ihrem Körper nach vorne, in das kakophone Kassen-Piepen.

In ihrem Laden ist es still und kühl. Sie räumt ein, den Kuskus als letztes; sie stellt ihn neben die Nudeln. Drei Packungen, sonnengelb, mit buntbemaltem Tontopf darauf. Sehr ordentlich, sehr leuchtend stehen sie da und werden für viele Wochen von niemandem bemerkt.

 

Carlotta Voß

 

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freiTEXT | Leon Zechmann

Mach's gut (Das Ende der Welt)

Am letzten Tag der Erde wache ich auf und schneide mir die Nägel. Ich habe dutzende Nachrichten bekommen, von allen Menschen, die ich je gekannt habe. Es hat sich angefühlt, wie alle Feiertage zusammen. Und zusätzlich vermissen dich, plötzlich, all deine Ex-Partner gleichzeitig. Entfernte Familie will Geld von dir und deine spielsüchtigen Freunde wollen in ihrem Kinderzimmer auf dem alten, brüchigen Nintendo DS mit dir spielen. Nur schreiben sie alle nicht das, was sie dann eigentlich schreiben würden. Sie schreiben alle dasselbe: „Mach's gut“. Jeder schreibt das, überall. Irgendjemand hat sich das als Motto des Weltendes ausgedacht.
Nachdem ich mir die Nägel geschnitten habe, laufe ich barfuß durch die Wohnung. Das ist mein Mindestanzeichen von Weltuntergangsstimmung. Ich hatte mir eimerweise Wasser aus dem um die Stadt fließenden Fluss geholt. Mitten in einem umliegenden Dorf war, weiß Gott wieso, noch ein Café geöffnet, die Dame dort wollte Wucherpreise für Gebäck. Also habe ich mir eine Kugel Eis geben lassen, und im Eis waren Marshmallow-Stücke. Es war relativ grässlich. Aber es hat den Trip über die Bahnschienen verfeinert, später mit den Eimern unterm Arm.
Ich wasche mir den Becher von gestern nicht mehr ab. Das passt doch auch in die Weltuntergangsstimmung, oder? Und den letzten Rest Wasser kippe ich in die Badewanne. Es ergibt sich kaum mehr als eine Pfütze. Es ergibt sich gar nichts. Ich hatte vergessen, den Abfluss zu verschließen. Ich schlage mir die Hände über den Kopf zusammen. Das kann doch nicht wahr sein. Mehr wollte ich doch gar nicht vom Ende der Welt, außer in einer modrigen Pfütze zu sitzen. Ich war bei meiner letzten Powerbank angekommen, ich hatte meine letzten Akkuprozente perfekt vorausgeplant. Ich hätte heute Musik gehört, die ich vor einem Jahrzehnt heruntergeladen habe, gesungen, mich abgeschrubbt. Vielleicht finde ich noch irgendwo zeit- und ortsnah Wasser.

Ich kann nicht genau erklären, wieso ich genau vor ihrer Wohnungstür stehe. Ich weiß gar nicht genau, ob sie da ist. Aber ich klopfe ziemlich sicher laut genug. Dann knarzt die Tür auf. Als sie vor mir steht, fällt mir auf, dass sie mir gar nicht geschrieben hatte, heute. Obwohl wir uns nie besonders geliebt oder gehasst haben. Es war eben einfach nichts zwischen uns. Am Ende bin ich vermutlich nur hier, weil wir nah beieinander wohnen.
„Wieso hast du mir nicht geschrieben?“, frage ich sie.
Sie fängt an zu prusten, so richtig, mit Spucke, so lacht man, wenn die Welt untergeht. Wir begrüßen uns trotzdem, während ich mindestens mitgrinsen muss.
„Ich hab keinen Akku mehr, seit zwei Tagen, und zu mir nach Hause fährt buchstäblich gar nichts mehr. Selbst wenn ich mit einem dieser provisorischen Nachtzüge fahren würde, würde ich nirgendwo ankommen.“
„Wieso fragst du dann nicht mich?“
„Ich habe tatsächlich darüber nachgedacht, aber wann haben wir bitte das letzte Mal miteinander geredet?“
„Fair, aber ist es nicht irgendwie so ein bisschen das Ende der Welt? Leute machen krassere Sachen, als sich gegenseitig nach Strom zu fragen.“
Ich bringe ihr meine allerletzte Powerbank, auch wenn ihr das kaum mehr bringen sollte als 50%. Sie hat noch überschüssige Wasserflaschen gebunkert, die nehme ich zu mir mit rüber. Das Mobilfunknetz scheint bis zum Ende nicht abzubrechen, während aus den Buchsen in der Wand seit ein paar Tagen keine Meldung mehr kommen will. Wer auch immer die Kommunikation im Land aufrechterhält, muss ein wirklicher Gutmensch sein. Das Ende der Welt passiert planmäßig gegen 22 Uhr, was mir noch etwa eine halbe Stunde gibt, um mich mit zwei Wasserflaschen abzuwaschen. Ich kaure mickrig am Badewannenrand. Es ist einfach nur kalt.
Dann fangen die Anrufe an. Und als es am anderen Ende weint, weine ich mit. Ein Großteil meiner Familie hat es zum Schluss noch geschafft, zusammen zu sein. Aber genauso wie meine großzügige Wasserspenderin bin ich viel zu weit weg. Außer Apokalypsen-Reichweite. Wäre ich direkt mit der Ankündigung nach Hause gelaufen, hätte ich es auch nicht geschafft. Wer noch angefangen hat zu reisen, hatte genauso verloren wie die, die alleine geblieben sind.
Und dann weint meine Mutter. Ich hatte mir nie vorstellen können, dass ich am Ende allen Seins in mehrere Decken eingewickelt auf meinem Schreibtischstuhl sitzen würde, dutzend Meter in der Wohnung über dem Boden, auf die kahle Stadt starrend, die mir vereitelt, mit meiner Familie zu sein, und dann weint sie, und sagt mir mit ihren beinahe letzten Atemzügen, dass sie immer stolz auf mich war, aber damals Recht damit hatte, dass ich nicht so weit hätte wegziehen sollen, und ich bin gar nicht sauer auf sie wegen des Seitenhiebes. Ich muss einfach nur weinen. Ist das eine Scheiße. Das ist der größte, der größte, gottverdammte Blödsinn, den ich je gehört habe. Wer so etwas schreiben würde, will nur, dass Leute leiden.
Es klopft an der Tür, beinahe zeitgleich mit dem 22-Uhr-Schlag. Wir verabschieden uns. Ich höre zum letzten Mal, wie meine Familie, geteilt, in ihrem komischen Dialekt ins Mikrofon brüllt, und das Tränenfließen hört nicht mehr auf. Mein Magen verkrampft sich, ich muss mir an die Brust fassen, weil mein Atmen stückig wird. So stolpere ich zur Tür, vor der sie steht, mit der Powerbank in der Hand, die, die ich ihr gerade erst gegeben hatte.

Ich glaube, es ist eine Eigenschaft des Menschen, zu weinen, mit Schnodder und Grunzen, wenn die Erde untergeht. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass wir beide uns vorher nicht im Entferntesten je umarmt hatten. Aber man hält sich eben gegenseitig fest, wenn es zu Ende geht.
„Bei dir ist die bessere Aussicht“, stellt sie fest, „und ich wollte dir die Powerbank wiedergeben.“
„Also, ich wollte einfach nicht alleine sein.“
Am Ende ist nur Feuerwerk.
Es ist ziemlich sicher kein Feuerwerk, es ist viel zu viel zu laut. Meine Ohren klirren. Es kommt grell durch die Fenster ins dunkle Zimmer. Wir zerfließen in die Schatten, die es wirft. Auch wenn ich die Worte hasse, die alle sagen, und sie glaube ich auch, tragen sie uns davon.
Sie ziehen sich durchs schemenhafte Sterben hindurch.
„Mach's gut.“

 

Leon Zechmann

 

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freiTEXT | Jonas Galm

aus einem leeren Mund kann man nicht flüchten, auch einen leeren Mund gilt es zu fürchten

Szenario eins.
Die Suppen: gelöffelt — jegliche Sorten von Suppe: legierte Suppen, Samtsuppen, kalte Suppen. Gebundene Suppen, Pürree. Eintöpfe. Menge, Zutatenliste, Reihenfolge ablesbar an den ehemals weißen Hemden der Tischgemeinschaft.

Hier wird gekleckert, nicht geklotzt.
Systematisch.

Infragestellung und Verfeinerung der Suppe: check.
Ist es noch eine Suppe, wenn niemand sie an- oder umrührt.
Wenn eine Suppe kein Schüsselchen findet, wohin verschwindet sie dann.
Monokel, plansch.

Die Sitte (veraltend, verhalten) verlangt es, klare Suppen — Kraftbrühen —
werden in Tassen, gebundene Suppen — püriert — dagegen in tiefen Tellern serviert,
die Sitte forciert es, die Sippe
kennt es nicht anders, hier Suppen in vorgewärmtem Geschirr und jenseits der Fingerkuppen, in Vogelschwärmen, Geschwirr,

vor dem Fenster fallen unbemerkt Schwalben aus unseren Himmeln, stupide, verstummt.

Good news: hier stellt ein Anheben der Suppenteller zur Vollendung der Speise keinen Verstoß gegen die Tischsitten dar.
Hallelujah.
Allein das heftige Pusten ist gemeinhin zu unterlassen, dagegen sollte man — zuliebe der Witterung unterer Atemwege — die Speise leicht mit dem Löffel, dem kleinen, mittleren Finger bis zum vollständigen Eintritt in den Zustand der abgekühlten Verzehrbarkeit rühren. Rührend,

um ein Verkleckern je nach Bedarf zu verhindern oder herbeizuführen, empfiehlt sich die Miteinbeziehung der Tischplatte, präzise Gewalteinwirkung auf dieselbe, Tremor, Tremolo, Crescendo, da capo!, das große Finale — die Kleckerei, endlich: das Plustern
hat sein ertrinkendes Ende gefunden,

Tischdecke, Vorhang.

Schluss.

 

Szenario zwei.

inmitten der Suppenverspeisung
Stromausfall —

Der Teller glüht. Der Löffel glüht. Die Zähne glühen.
Jemand erkundigt sich, ungefragt, nach Ursprung und Form

der Vergangenheit,

schlürfend. Die Tasse glüht.
Ich hab die Verpackung weggeschmissen,

ich habs mir geschworen, die Sitten erlauben es — Störungen, Überflutungen
zulassen. Schütter,

mit wallenden Kerzen such ich den Sicherungskasten, durchwühle den Plastikmüll, die Notversorgung ist bereits eingeschaltet,

die Lichter brennen bereits, der Müll ist bereits Suppe, dampfend,

Die Suppe hat mich verspeist.
Ich erwarte ihre Verdauung, letzte Hoffnung — carry on phenomenon —
die Gottheit in der Not, mein
last resort: Metabolismus.
Die Suppe wird selbst zum Refugium.

 

So war das,
so könnte das gewesen sein.

Man hat mir gesagt: ich hoffe, wir sehen uns bald wieder
mir gefällt dein Unterton, — ohne zu zwinkern

oder Ironie,
und ich war nackt.

Man hat mir gesagt:
Sonnenuntergang, du stöhnst sehr schön

— ein Gesicht, das zurückschaut —

wie traurig, dass nichts davon bleibt, oder nicht? (ich wollte dem weder zustimmen noch widersprechen)

Schön, dass es nun zu Ende sein muss,

J'ai faim
— aime-moi, alors!

Das ist viel leichter, als ein Gedicht zu schreiben, das nicht stupide und kurzsichtig und wahnsinnig unterkomplex gerät, trotz aller Sperrigkeit. Aime-moi, alors. Alors, warum auch nicht.
Ich habe Hunger —

Man hat gesagt,
heute schlaf ich nackt,

Oder: ich wünsche ihnen viel Gesundheit und ein interessantes Leben,

woanders, sehr nah: man ist am Ende natürlich allein,
aber ich hoffe, du vergisst trotzdem nicht: du bist nicht allein,
man muss sich verbünden.

jemand: der Rest sei ja vollkommen wurscht —

So war das.
nett.

 

Jonas Galm

 

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freiTEXT | Chris Lauer

Der Gebetsbaum

Wenn Marion in ihrem Schlafzimmer steht, sieht sie auf einen Innenhof hinaus. Der Innenhof gehört zu einem anderen Haus, oder vielleicht auch zu keinem, das weiß Marion nicht. Der Boden ist uneben und die Mauern krumm; Marion stellt sich den Innenhof immer vor wie eine Zahnkrone, die man auf den Kopf gedreht und zwischen die Häuser gesteckt hat, damit der herunterhängende Himmel nicht blank da steht. Irgendwann hat ein Baum angefangen, in der Mitte des Innenhofs zu wachsen. Im Frühling ist dieser Baum ein Ostereierbaum, im Sommer ein Papiergirlanden- oder Weißewäschebaum, im Winter ein Lichterkettenbaum, nur im Herbst hat der Baum, der seine Blätter verliert, keinen Namen. Um dem Baum auch im Herbst einen Namen zu geben, haben Menschen begonnen, Gebete an den Baum zu hängen. Die Gebete flattern als bunte Stoffstreifen im Wind. Marion hört sie bei geschlossenem Fenster, wenn sie in ihrem Schlafzimmer steht, mit hellen Stimmen durcheinander reden. Ein Wort hat Marion noch nicht verstanden. Sie sieht nur, dass je leichter der Baum durch das Verlieren seiner Blätter wird, desto schwerer wird er an Gebeten. Beim ersten Schnee ist der Baum dann so schwer an Gebeten, dass er gekrümmt da steht und kein Vogel mehr Platz hat, um sich auf einen seiner Äste zu setzen. Dann kommt jemand vorbei und sammelt die Gebete ein. Manchmal ist es eine Frau und manchmal ein Mann. Die Frau oder der Mann knoten jedes Gebet einzeln wieder auf und verstauen es in einer Tasche. Für die Gebete, die an den oberen Ästen hängen, müssen sie oder er auf eine Leiter steigen und mit ausgestreckten Armen das Gebet vom Ast entfernen. Nie aber wird dabei ein Gebet zerschnitten. Marion fragt sich, wohin die Gebete verschwinden, was eigentlich mit den Gebeten passiert, die gesprochen werden, wenn der Baum kein Gebetsbaum, sondern ein Ostereier-, Papiergirlanden-, Weißewäsche- oder Lichterkettenbaum ist. Vielleicht fühlen diese Gebete nicht den Wind, der sie immerzu in Bewegung hält, vielleicht sind sie nicht bunt, vielleicht können sie nicht über die Haut gleiten, wie Stoff über die Haut gleitet, und vielleicht sprechen sie nicht mit hellen Stimmen durcheinander. Vor allem müssen diese Gebete einfachere sein, denkt Marion, denn sie brauchen nicht eine Zeit lang angebunden zu werden, so wie man einen störrischen Hund anbindet, bevor man ihn frei laufen lassen kann.

Gerade hängt der Baum wieder voll mit Gebeten und Marion entscheidet sich in diesem Augenblick dazu, zwei weitere anzubringen. Eins für den Baum, denn irgendwann ist Marion klar geworden, dass der Baum zwar die Gebete vieler anderer Leben trägt, er aber nie ein eigenes wird hinzufügen können. Das andere Gebet möchte sie für sich selbst dort anknoten. Marion ist sich unsicher, ob es gegen die Regeln des Gebetsbaums verstößt, aber für ihre Gebete möchte sie keine Stoffstreifen benutzen, sondern ihre beiden Schnürsenkel. Die Schnürsenkel sind mintgrün und viel länger als die anderen Stoffstücke, die an dem Baum hängen, obschon ihre Gebete kurz sind. Da Marion ihre Schnürsenkel nicht entzweischneiden möchte, entschließt sie sich dazu, mit ihnen Schleifen zu binden. Warum Marion keine Stoffstreifen, sondern ihre Schnürsenkel zum Befestigen der Gebete benutzt, hat einen einfachen Grund: Marion trägt den Kampf, den sie mit sich ausficht, in den Beinen. Zunächst hat ihr das erlaubt, ihren Alltag zu ordnen. Einmal morgens und einmal abends, dann dreimal, viermal, fünfmal am Tag. Wenn es Marion nicht gut ging, weil sie essen wollte, ihr dieser Wunsch aber große Angst machte, meldeten sich ihre Beine. Ihr Beine sagten ihr, dass sie gerne laufen würden. Und Marion hielt das für eine gute Idee, denn anstatt dass sie mit sich selbst zusammenarbeitete, ließ sie einfach ihre Beine zusammenarbeiten. Das ging am besten, wenn die Beine ihre Aufgabe ganz schnell und ohne Pause ausführten. Dann bekam Marion das Gefühl, dass überhaupt kein Kampf mehr da war; dass so wie ihre Beine zwei und doch eins waren, auch sie zwei und doch eins war. So lief Marion eine Runde nach der anderen im Park. Sie lief so viele Runden im Park, dass die Muskeln in ihren Beinen anschwollen und mehr Platz in ihren Ober- und Unterschenkeln da war. Sie konnten jetzt nicht mehr nur Marions Kampf, sondern auch ihren Verstand aufnehmen. Dann musste Marion gar nicht mehr nachdenken, wo sie abzubiegen und welche Strecke sie zu laufen hatte, das ging dann ganz von alleine. Aber nach langer Zeit merkte Marion, dass ihr Alltag gar nicht mehr dadurch geordnet wurde, dass sie Runden lief, und dass der Hunger nicht dadurch verschwand. Trotzdem konnte Marion gar nicht mehr aufhören mit laufen. Sie lief Schuhpaar um Schuhpaar kaputt, bis sie plötzlich fürchtete, auch sich selbst kaputtzulaufen. Deswegen fädelt Marion gerade ihre Schnürsenkel aus und geht nach draußen. Eine kalte Brise wirbelt Blätter auf; die Gebete schnalzen laut mit der Zunge, sonst bleiben sie still. Marion schaut in den Himmel hinauf. Er hängt durch, als ob jemand sich in ihn wie in eine Hängematte gelegt hätte. Da sagt sie sich: Diese Nacht wird es Schnee geben. Sie bindet zuerst den ersten Schnürsenkel fest, dann den anderen. Sie braucht gar nicht lange dafür. Dann geht sie zurück ins Haus. In der Nacht steht sie in ihrem Schlafzimmer und schaut hinaus. Sie fragt sich, wie viel Schnee es braucht, um den ganzen Innenhof einzuschneien. Vielleicht so viel, wie es Gebete braucht, um eine Hängematte zu füllen, denkt sie. Dann schläft sie ein. Als sie am nächsten Morgen erwacht, sind die Rollladen noch hochgezogen. Es hat geschneit. Mintgrün.

 

Chris Lauer

 

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freiTEXT | Leonie Höckbert

Junimond

Janni träumt von der perfekten Trennung. Sie träumt davon, dass alles ganz unkompliziert sein kann. Wie in Filmen und Serien. Wo Paare, die jahrelang zusammen waren, sich einfach eines Abends an den Küchentisch setzen können und sagen können: Das war’s. Und dann geht einer von beiden und die andere bleibt am Küchentisch zurück und gießt sich ein Glas Wein ein und trinkt es nachdenklich, aber nicht unbedingt todtraurig, aus. In manchen Filmen, besonders in französischen, findet Janni, besprechen die in Trennung befindlichen Paare sogar ganz am Ende noch ganz Wesentliches, sagen dem Anderen nochmal ein paar ernste Worte über die Persönlichkeit oder das Verhalten oder das Leben und Beziehungen im Allgemeinen und dann entsteht daraus gar kein Streit oder tiefe Verletzung und Beleidigung, sondern ein wertschätzender Austausch, an dessen Ende sich die Trennung wie der ganz richtige Schritt für beide anfühlt. So soll das für Janni sein. Ohne Tränen. Wenigstens, bis die Szene im Film vorbei ist. Sie sehnt sich nach dem Moment nüchterner Klarheit, in dem beide Parteien zugleich erkennen: Aus uns wird nichts mehr. Wir sollten nachts kein Bett mehr teilen. Wir sollten morgens keinen Kaffee mehr füreinander machen. Die Formulierung eine Szene machen erscheint Janni sinnlos. Eine Szene nach ihren Vorstellungen wäre gerade das Gegenteil von dem, was gemeint ist.
Ihre Trennungsgeschichte hat in der fünften Klasse angefangen und ihre Standards gleich zu Beginn hoch angesetzt. Jonas aus der Parallelklasse hatte ihr in der großen Pause ein KitKat Chunky White gekauft. In der nächsten großen Pause hatten sie Händchen gehalten und sich nach der Schule darauf geeinigt, miteinander zu gehen. Ungefähr drei Wochen lang hatten sie Händchen gehalten und Schokoriegel geteilt, bis Jonas nach der Schule sagte, er wolle nicht mehr zusammen sein. Seine Freunde fänden, sie sollten sich küssen, aber er habe keine Lust da drauf. Janni hatte auch eigentlich keine Lust da drauf und genug Taschengeld, um sich selbst KitKat zu kaufen. Sie sagte okay, wir machen Schluss, und Jonas rannte zu seinen Freunden und mit ihnen zum Bus. Statt Enttäuschung hatte Janni eine gewisse Erleichterung gefühlt.
Eine Beziehung überhaupt anzufangen, ist die entscheidende Voraussetzung für eine gelingende Trennung, deswegen sucht Janni immer wieder auf Dating-Plattformen nach Männern, von denen sie sich trennen kann. Jannis erste Beziehung im Studium ging zwei Jahre lang und als sie sich trennte, war es furchtbar, voller Tränen und Vorwürfe, Gemeinheiten und Selbsterniedrigung. Danach nahm sie sich vor, zu üben.
Sie betrachtet sich selbst auch als eine Art Trainingseinheit für ihre Kurzzeitpartner. Wie ein Kurs im Fitnessstudio oder bei der Volkshochschule. Wer mit ihr fertig ist, oder besser – mit wem sie fertig ist, der kann sich als weitergebildet betrachten und ist dementsprechend gewappnet für die nächste Beziehung. Dass eine Beziehung bestenfalls nicht vom Ende her anfängt, kommt Janni nicht in den Sinn. Heiraten ist für sie nur der Auftakt zu einer Trennung mit mehr Schritten.
Sie probiert verschiedene Methoden aus. Eine Trennung über Textnachricht kommt ihr zwar nicht so moralisch verworfen vor wie immer behauptet, ist aber auch nur die Fälschung des Gefühls, nach dem sie sucht. Sie hat es probiert und obwohl das für sie ruhig und überlegt abgelaufen ist, fehlt ihr die Perspektive des Verlassenen, der natürlich trotzdem völlig verzweifelt sein könnte. Die Trennung muss im Gespräch passieren. Am besten spontan, nicht von langer Hand geplant. Aus einem Impuls heraus, der den Partner auch ganz plötzlich erkennen lässt, dass sie wirklich nicht zusammenpassen. In einem nachlässig im Schlafzimmer versteckten Notizbuch dokumentiert Janni ihre Versuche. Es liegen immer einige Monate oder wenigstens Wochen zwischen den einzelnen Einträgen, um überhaupt einen gewissen Spannungsaufbau für die Trennungsübung sicherstellen zu können. Trotzdem sind zwei Versuche mit der etwas peinlichen Notiz versehen, dass die Internetbekanntschaft, der Janni die Trennung unterbreitete, bei diesem Anlass überhaupt das erste Mal davon gehört hat, dass sie zusammen gewesen wären.
In inzwischen einigen aktiven Jahren Forschung und Proben brachte sie es auf ungefähr zwölf ernstzunehmende Datensätze. Davon war genau eine Trennung auch nur in die Nähe einer soliden Filmszene gekommen. Da waren sie zu zweit nach sechs Monaten regelmäßiger Treffen in einem gerade aufblühenden Sommer in den Park gegangen und hatten so lange schweigend auf einer Parkbank gesessen, dass unumstößlich klar geworden war, dass alle weiteren Treffen drückende Stille wären, sie hatten sich nach sechs Monaten einfach nichts Neues mehr zu sagen. Er sagte, es wäre nicht unangenehm, mit ihr zu schweigen, aber er würde dabei auch nichts Besonderes fühlen. Janni bestätigte. Sie nahmen sich an der Hand und schwiegen noch, bis es dämmerte. Danke, dass du es angesprochen hast, sagte Janni, bevor sie in verschiedene Richtungen aufbrachen. Danke, dass du keine Szene gemacht hast, sagte der Mann, der in sechs Monaten anscheinend gar nichts über Janni gelernt hatte.
Einer ihrer Partner hat gefleht, sie solle ihn nicht verlassen. Drei haben sich von ihr getrennt, bevor sie ihre letzten Worte gut sortiert hatte. Zwei haben sie nach einigen Monaten geghosted und so ein auf andere Art besonders unbefriedigendes Ende geschaffen. Einem Mann hat sie zuvor von ihrer Sehnsucht nach der perfekten Trennung erzählt und als sie es dann versucht hat, hat er sich an das Gespräch erinnert und ist zynisch geworden. Die Rahmenbedingungen stimmen oft nicht, die Orte sind falsch oder die Dinge, die gesagt werden, unpassend; das Gefühl von entromantisierender Ernüchterung ergibt sich nicht, wird oft überschattet von Jannis Erleichterung, eine ihr längst unbequem gewordene Übungsbeziehung endlich ihrem Zweck zuführen zu können. Viel zu oft wurde geweint. Das ist besonders falsch, dieser Schmerzausdruck, der eine unmittelbare Schuldzuweisung enthält. Wer sich gegenseitig nichts vorhält, sollte nicht heulen, findet Janni.
Auf der Arbeit klickt sie sich den ganzen Tag durch Excel-Tabellen. Neben ihr auf dem Schreibtisch liegt ihr Handy, stummgeschaltet, und leuchtet immer wieder auf, wenn sie eine Nachricht von Tinder oder Bumble bekommt. In der Phase nach einer Trennung wirft sie Netze in alle Richtungen aus, unterhält vier, fünf Konversationen parallel. Erst seit ein paar Wochen arbeitet sie in der Datenanalyse, es ist ihr erster Vollzeitjob, sie lernt viel für ihre eigenen Daten und notiert sich oft Analyseverfahren für den Privatgebrauch. Der Job ist ruhig genug, um nebenher fast identische Nachrichten an mehrere potentielle Trennungsübungspartner zu schicken.
Als der Chef sie Montag morgens ins Büro ruft, ist es das erste Mal, dass Janni den Raum wieder betritt seit ihrem Bewerbungsgespräch. Der Chef bietet ihr einen Kaffee an und einen der Stühle am Schreibtisch, keinen der gemütlichen Sessel in der Ecke. Als der Kaffee vor ihr steht, vor ihm nur ein Espresso, klappt er seinen Laptop zu und sagt, er wolle nicht drumherum reden. Ob sie sich bei ihnen in der Firma wohlfühle? Janni nickte, etwas überrascht von der Frage. „Wir haben nicht den Eindruck“, sagt der Chef und nippt am Espresso. „Sie bringen sich wenig ein und scheinen Schwierigkeiten mit dem Teamgeist unserer Einrichtung zu haben.“ Wer ist eigentlich „wir“, denkt Janni, während sie nichts sagt. „Leider muss ich ihnen mitteilen, dass wir aus Gründen der Wirtschaftlichkeit Stellen in ihrem Arbeitsbereich einsparen müssen. Das bedeutet, dass wir uns von Ihnen verabschieden müssen, so leid es mir tut.“ Er trinkt seinen Espresso in einem Zug leer. „Können Sie das nachvollziehen?“ „Ja“, sagt Janni, obwohl sie das eigentlich überhaupt nicht nachvollziehen kann. „Sie sind noch in der Probezeit. Daher gilt ihre Kündigung fristlos. Ich möchte Sie bitten, ihren Platz aufzuräumen.“ Er steht auf und reicht ihr die Hand. „Und ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute auf ihrem weiteren beruflichen Weg.“
Janni lässt ihren Kaffee unberührt stehen und geht zurück zu ihrem Platz, wo ihre letzte Aufgabe noch auf dem Bildschirm offen ist. Es dauert nur wenige Minuten, ihr Handy, ihren Thermosbecher und ihre wenigen anderen privaten Gegenstände in ihre Tasche zu packen und alle privaten Daten vom Rechner zu löschen. Ihre Kollegen scheinen in Mittagspause zu sein, jedenfalls nickt Janni auf dem Weg raus nur der Empfangsdame zu, die als einzige auf ihrem Platz sitzt. Es ist alles ganz unkompliziert. Die perfekte Trennung, denkt sie anerkennend. Und wartet mit den Tränen, bis sie auf der Straße steht.

 

Leonie Höckbert

 

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freiTEXT | Sonja Kittel

Approximation

Sie sitzt mit angezogenen Knien auf einem Stuhl und wartet. Der Hund hat sich am Boden eingerollt und schließt sich dem Warten an. Zwei Feuerkäfer krabbeln an seiner Schnauze vorbei. Einen Moment bleibt sie noch sitzen, hofft, dass doch ein Einfall kommt, ein Anfang. Stattdessen tippt sie etwas in die Suchmaschine, verliert sich in den Nachrichten des Tages. Bald klappt sie den Laptop zu, geht ins Haus und beginnt die Abendroutine. Nicht verhasst, nicht einmal unangenehm, nur Routine, die sie ein weiteres Mal nicht durchbrechen kann.

Markus lief die Treppe hinunter und raus aus der Tür. Er drehte sich nicht um, blieb nicht stehen, wurde nicht langsamer. Er hatte sich viel vorgenommen für diesen Abend. Schon am Anfang der Woche hatte er begonnen sich vorzustellen, wie es ablaufen würde. War Dialoge in seinem Kopf durchgegangen und Musik, die sie hören würden, hatte die Begrüßung in verschiedenen Varianten durchgespielt. Ein Händedruck oder eine Umarmung, die ein bisschen zu lang dauert.

Die ersten Sätze sind geschafft. Der erste Absatz fertig. Plötzlich ist er aus ihrem Kopf gepurzelt. Weitere fügen sich unaufgefordert hinzu. Sie hat eine vage Ahnung, in welche Richtung es gehen könnte. Es fühlt sich nicht euphorisierend an. Es ist kein Flow. Viel mehr ermahnt sie das Trommeln und Schnaufen der Waschmaschine, dass sie bald geleert werden will.

Markus hatte Robert vor zwanzig Jahren kennengelernt. In einer Vorlesung über „Approximation“. Sie hatten begonnen sich kleine Zahlenrätsel zu stellen. Markus hatte das Papierkügelchen-hin-und-her-schieben an seine Schulzeit erinnert und die Vorlesung war fast zu schnell vorbei gewesen. Sie hatten sich in die Mensa gesetzt und gemeinsam Mittag gegessen – Kohlrabicremesuppe, Lasagne, Erdbeerkuchen – gefolgt von stundenlangem Austausch über gute und schlechte Entscheidungen im Leben. Dieser Tag war der Anfang einer Freundschaft gewesen, die sie durch das Mathematikstudium trug.

Fast eine Woche hat sie nichts geschrieben. Jetzt legt sie dem Hund das Geschirr an und geht mit ihm raus. Durch den Wald, an der Kletterwand vorbei, die heute einsam da steht, und weiter bis zur kleinen Kapelle. Dort setzt sie sich auf eine Bank. Der Hund bleibt stehen und hechelt. Die Schwarzkiefern knacksen und krachen unter der Hitze des Sommertags. Sie wollte immer schreiben. Es ist das, was ihr am meisten Spaß macht. Es ist das eine Kontinuum, das sich durch ihr Leben zieht. Sie zwingt sich, an den Text zu denken.

Sie wohnten zusammen, sie radelten zusammen, sie reisten gemeinsam nach Andalusien und wanderten durch die Sierra Nevada. Sie betranken sich am Ende jeder missglückten Beziehung und stießen auf jede neue Liebe an. Sie gingen auf Tocotronic-Konzerte, brüllten „Hi Freaks“ in die Nacht hinaus und dann war plötzlich alles vorbei. Der Abschluss des Studiums riss ihre Welt auseinander und teilte sie in zwei neue, deren Umlaufbahnen einander nicht tangierten. Robert zog nach Zürich, wo er als Doktorand an der Technischen Hochschule forschte. Markus entschied sich fürs Lehrerdasein, lange Sommerferien und geregelte Tage. Am Anfang telefonierten sie noch ab und zu, dann begann die Verbindung immer loser zu werden, bis sie irgendwann riss.

Sie hat ihr Notizbuch herausgenommen und schreibt schnell ihre Gedanken auf. Lange waren die Seiten leer geblieben. Sie jetzt mit Buchstaben, Worten, Sätzen zu füllen macht sie glücklich. Sie streichelt dem Hund über den Kopf, steckt das Büchlein ein und geht weiter. Ein leichter Wind kommt auf. Die Luft knistert. Der Hund beginnt zu zittern. Er spürt das nahende Gewitter. Erst im Alter hat er begonnen Angst davor zu haben. Heute dreht er hechelnd und zitternd seine Runden, wenn der erste Donner grollt. Sie geht schneller, läuft schon fast. Als sie das Gartentor öffnet, landen die ersten Regentropfen. Sie setzt sich auf den Teppich und krault den Hund. Sie klappt den Laptop auf und schreibt.

Acht Jahre hatten sie nichts voneinander gehört. Dann war da diese Feier. Das Geburtstagsfest einer gemeinsamen Freundin. Markus wollte gar nicht hingehen, hatte sich aber nach zwei einsamen Bier auf seinem Balkon doch einen Ruck gegeben. Als er den Garten des Heurigen betrat, berührte ihn die Szenerie. Bunte Lampions erhellten die gerade eintreffende Nacht. Die Gäste saßen dicht nebeneinander auf den Bänken, Weingläser, Zigaretten, Gesten zwischen den Händen. Es spielte ein Lied, das er einmal geliebt hatte, und er quetschte sich zwischen die feiernden Körper und ließ sich mitreißen in eine längst vergessen geglaubte Vergangenheit. Dann sah er ihn. Robert saß zwischen zwei ehemaligen Kommilitoninnen und lachte. Ein Lachen, das er so oft gehört hatte, dass es ihm zu einer zweiten Heimat geworden war. Jetzt verursachte es ein brennendes Ziehen zwischen seinen Rippen.

Sein erster Impuls war, sich zu ducken, zwischen den Tischen und Bänken hindurch zu krabbeln, unbemerkt zu entkommen. Doch schon hatte Robert ihn entdeckt, stand auf und ging zu ihm rüber. Er nahm ihn in den Arm, zog ihn neben sich auf die Bank. Er war vor ein paar Tagen nach Wien gekommen. Hatte gehofft, Markus hier zu treffen. Die anfängliche Befangenheit wich schnell dem intensiven Gespräch, das sie von Anfang an verbunden hatte. Die Bänke leerten sich, doch Markus bemerkte es nicht, weil er fokussiert war auf einen Menschen, den er so lange nicht mehr gesehen hatte und der ihm trotzdem sofort nah war, näher als zuvor.

Sie öffnet ihr E-Mail-Programm und ordnet Mails in verschiedene To-Do-Ordner. Neben sich sieht sie den Stapel Briefe liegen, der darauf wartet bearbeitet zu werden. Sie öffnet einen nach dem anderen. Der Hund legt sich brummend auf die Seite und streckt sich. Als sie nichts mehr davon abhalten kann, wendet sie sich wieder dem Bildschirm zu und schreibt.

Markus und Robert redeten die ganze Nacht. Sie schlossen nahtlos an das an, was sie gehabt hatten. Gute und schlechte Entscheidungen in ihrem Leben, Zahlenrätsel, „Hi Freaks“. Als sie auseinandergingen, war trotzdem alles anders. Markus konnte nicht aufhören, an Robert zu denken. Alles in ihm zog auseinander. Er wollte zurück in diese Nacht, zurück an die Seite von Robert, zurück in das Gespräch.

Markus lag auf der Couch und starrte sein Handy an. Wartete auf eine Nachricht, verzehrte sich nach einer Nachricht. Doch es kam nichts. Er schaltete den Fernseher an. Zappte von Programm zu Programm. Schaute wieder aufs Handy. Nichts. Er tippte ein paar Worte in sein Telefon, löschte sie wieder. Er schloss die Augen, versuchte, zu verstehen, was passiert war. Dann schrieb er doch eine Nachricht: „Hey, war schön gestern. Wie lang bist du noch da?“ Erst ein Häkchen, dann zwei, dann blau. Keine Antwort. Markus wurde wütend. Er schaltete das Handy aus und ging unruhig in seiner Wohnung hin und her. Aus seinem Verlangen wurde Zorn. Er hasste Robert. Er hasste ihn dafür, dass er damals weggegangen war. Er hasste seine Forschungsambitionen, sein Fernweh, sein Lachen.

Als er abends das Handy wieder einschaltete, war die Antwort da. „Ja, war schön. Bin noch bis Ende der Woche da. Komm doch Freitag vorbei. Ich koche was.“ Die Wut war so schnell verschwunden, wie sie gekommen war. Seine Finger kribbelten, sein Gaumen kitzelte. Markus biss sich auf die Zunge, um dem ein Ende zu setzen, das er sich nicht erklären wollte. Er zwang sich dazu, nicht gleich zurückzuschreiben. Fünf Minuten später machte er es doch. Er käme gerne. Er freue sich. Er setzte sich an den kleinen Tisch auf seinem Balkon, rauchte eine Zigarette und begann sich vorzustellen, wie es ablaufen würde.

Der Hund kratzt an der Tür. Sie lässt ihn in den Garten, setzt sich gleich wieder an ihren Text. Die Push-Nachrichten auf ihrem Handy hat sie deaktiviert, später das Handy ganz abgeschaltet. Sie tut es endlich. Sie schreibt einen Text, sie hält eine Deadline ein. Sie weiß jetzt, dass sie es schaffen wird.

Die Tage vergingen zu langsam und viel zu schnell. Am Freitag machte Markus dann alles so, wie er es schon so viele Male in seinem Kopf durchgegangen war. Nach der Arbeit eine Runde laufen, duschen, das hellblaue Hemd mit Rundkragen. Ein Glas Wein für die Nerven. Er setzte sich in die Straßenbahn, lehnte den Kopf an die Scheibe und betrachtete die Menschen draußen. Bei Robert angekommen klingelte er, öffnete die Tür, als das Surren erklang, und stieg die Treppen hinauf. Mit jeder Stufe schlug sein Herz schneller.

Die Tür stand offen. Robert rief ihm aus der Küche zu, er solle es sich schon mal bequem machen. Das Essen – Kohlrabicremesuppe, Lasagne, Erdbeerkuchen – begleiteten Gespräche über Roberts Forschungsprojekte und Markus‘ Alltag als Lehrer. Markus bat Robert um ein bisschen Musik. Er schaltete das Radio ein. Sie gingen auf den Balkon eine rauchen, schauten auf die gegenüberliegende Hauswand, konnten das Gespräch zum ersten Mal nicht am Laufen halten. Markus ging ins Badezimmer und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er schaute sein Spiegelbild an und versuchte, ihm und sich Mut zu machen.

Als er aus dem Badezimmer trat, stand Robert vor ihm. Er hatte Markus Jacke in der Hand. Er wolle ihn nicht rausschmeißen, aber morgen müsse er früh raus. Der Rückflug nach Zürich, vorher das Apartment räumen. Markus nahm seine Jacke wie in Trance. Er zog seine Schuhe an, öffnete die Tür und stand schon auf dem Gang, als Robert ihn nochmal zurückzog. Einen kurzen Moment zögerten beide und schauten sich an. Dann drückten sie sich kurz. Schön war es gewesen, ihn wieder zu sehen, und er solle doch ab und zu etwas von sich hören lassen. Markus lief die Treppe hinunter und raus aus der Tür. Er drehte sich nicht um, blieb nicht stehen, wurde nicht langsamer.

Sie klappt den Laptop zu, es ist geschafft. Für heute hatte sie sich die Deadline gesetzt. Entweder du schreibst diese Geschichte fertig, oder du vergräbst deinen Traum in einem tiefen Loch und holst ihn nie wieder hervor. Am Abend wird sie ihren Geburtstag feiern. Sie hat viele Menschen eingeladen, einige davon hat sie schon lange Zeit nicht mehr gesehen. Als sie den Garten des Heurigen betritt, berührt sie die Szenerie. Bunte Lampions erhellen die gerade eintreffende Nacht.

 

Sonja Kittel

 

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freiTEXT | Susanne Schmalwieser

du kadaver wolltest zuckerbäcker werden

mein grosser vorsatz wäre
nicht wie eine verrückte dir zu verfallen
er ist schon immer gewesen nicht verrückt zu sein wie das blutgetriebene muttertier
einen anzug tragen und ein paar stunden lang vergessen dass die haut darunter sich ablöst dass ich ein reptil bin wenn man mich
(nur als solches behandelt)
als ein solches klassifizierbar macht
ich also zerlegbar bin in meine einzelteile du also zerlegbar bist in deine einzelteile
dass dort drüben sie dir gerade
vielleicht ja einen zahn ausschlagen oder das blut ausschlagen den schädelknochen anhand der zu erwartenden bruchlinien spalten ohne die friedliche sorgfalt des sezierbestecks und dass du schreist wie eine schlachtsau

wir sind verschiedener mütter oder bloss weil einmal ein paar menschen mit dem geodreick und der landkarte ein spiel überlegt haben jetzt durcheinander jetzt verschieden
meine heimat der abdruck eines whiskeyglases im atlas
deine ausgebrannt ein historienort ein zigarrenfleck
kein fensterglas mehr in den häusern die jetzt mit vielen dunklen augen starren wo sie kein blick mehr fasst

es ist die flugzeugstille und du mir wie in irgendeinem traum dahingerafft
oder vor mir ausgerollt wie strudelteig
irgendein gratis wlan erkenne ich wieder und in deiner wohnung ist mir alles fremd geblieben
ein stempel im reisepass ein paar digitalisate unserer polaroidbilder ein kochrezept das mir nie recht gelingen will
natürlich hat der vater recht behalten dass ich einen ganzen menschen nicht besitzen kann

kölsches schokolademuseum und die reisegruppen die sich mir in den bauch stossen
machete im glassturz
(interaktiver creative space)
als ob wir erleben um es auszustellen
oder als knochensammlung ausgestellt zu werden
grabbeigaben oder auf der flucht noch hastig
nach dem handy gegriffen, ein paar münzen und dem
hochzeitsfoto der grosseltern
historische einblicke eine multimedia
experience du hast noch versucht anzurufen
anzurufen als man dich analogisiert
(zu staub oder in alle deine pixel zerfallen)

ist ja normal dass ich dich noch etwas hin und her spüle wie mundwasser zu weit hineingerutscht zu spät dich auszuwürgen
heimlichmanöver
kein wunder dass mir oder wem du mehr gewesen bist schaudert vor dem leeren sarg dieser schreckensfantasie
und weil du erdnüsse nicht verträgst hab ich schon manchmal viel abstrakter gefürchtet dass du sterben musst

diese mayaschen 5 tage nach dem ende aller monate
sogar die zeit ist also erfunden worden
analytisch betrachtet gibt es nichts
bis auf das ende einer prophezeiung
aztekische schattengestalt auf rot, in der hand eine kakaofrucht vor saftigkeit beinahe berstend
historisch gesehen gibt es uns alle immer wieder
du kadaver wolltest zuckerbäcker werden
ich in der schokoladenfabrik gedenke deiner hülle in eine fahne gewickelt von ein paar engerlingen kompostiert vermutlich irgendwann
einer aussaat zugestreut, vielleicht einem weizenfeld,
vielleicht nach noch ein zwei metamorphosen einer zuckerrübe oder einer theobroma
(einem gott dich über dem nachtisch zu zermalmen)

ich will alles nur nicht ein letztes mal so tun als wäre es mir peinlich
wenn du mich mit der hand am oberarm nimmst und in eine richtung drängst bloss nicht überlegen müssen wann unser letzter streit und ob mein letztes wort an dich zu streng gewesen ist nicht jedes wort bereuen
das ich an dich verschwendet habe wo ich doch einfach hätte sagen
wie schön du mir bist oder schweigen können
ich stell mir deine tagträume vor
du hast eine liste gemacht mit wünschen für die kremierung

stell dir vor der himmel bräche später
und was du tätest mit einem letzten tag in deiner alten welt
stelle vor der himmel bräche nie

ein blechschiff voll augen mich in der trauer zu bestaunen
oder gaffend in diesem gefühlszwischenraum
der sich meistens auftut wenn du leben musst
oder noch leben darfst
und die jännerkälte in spitzen vektoren auf dich zufährt, die spitzen unters fleisch fährt
ein land vor dem ofen erdacht unter frostbeulen geschaffen worden;
als ob wir nicht nach dem minutenlangenkreisen auf der weltuhr
(einmal mit den körpern)
etwas neues zu erzählen vermögen

 

Susanne Schmalwieser

 

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freiTEXT | Anette Violet

Der Würfel

Ich kann nicht sagen, wann es anfing. Vermutlich noch früher, als ich denke. Ich erinnere mich, dass ich schon vor Jahren eine, vor allem körperliche, Unruhe spürte, die ich durch nichts in den Griff bekam, weder durch Sport, noch durch das Verbannen elektronischer Geräte aus dem Schlafzimmer, noch dadurch, dass ich schließlich mit Kaffeetrinken aufhörte. Meine Frau begann immer häufiger, mich anzuschauen, als würde sie mich gar nicht kennen und wir zogen in unterschiedliche Zimmer – diejenigen in der Wohnung, die am weitesten voneinander entfernt lagen.

Lange verstand ich nicht, was los war. Ich ging weiter ins Büro. Ich kaufte weiter ein, was auf der Liste stand, und abends las ich den Kindern vor, bis es Zeit war, das Licht zu löschen. Zunächst verwechselte ich den Ton. Wir wohnten in einem großen Komplex mit 84 Parteien. In jedem Zimmer jeder der 84 Parteien befand sich ein Rauchmelder an der Decke. Die Batterien der Geräte gingen schneller leer, als auf den Verpackungen prognostiziert, was das Gerät mit einem lauten Piepen alle 60 Sekunden anzeigte. Weil regelmäßig Bewohner des Komplexes verreist waren, piepten die Rauchmelder in den leeren Wohnungen vor sich hin, ohne dass sich jemand darum kümmerte. Die Hinterhöfe waren voll von nahem und fernem Piepen. Wie rote, eckige Flecken tauchten die Töne am Himmel auf und verschwanden wieder, kurz, klar und prägnant.

Am Anfang, kurz nachdem die Melder eingebaut worden waren, brachte mich das fast um den Verstand. Mehrfach alarmierte ich die Hausverwaltung, einmal sogar die Polizei, um zu bewirken, dass die Mieter ausfindig gemacht und die Batterien gewechselt wurden. Aufgrund der Anzahl der Rauchmelder war dies ein hoffnungsloses Unterfangen, und irgendwann hatte ich mich an das bipp... bipp... gewöhnt und schenkte ihm keine Beachtung mehr.

Erst als ich begann, es auch außerhalb des Wohnkomplexes wahrzunehmen, fing ich an zu begreifen, dass nicht nur die Rauchmelder piepten. Immer wieder hörte ich einen roten, eckigen Ton. Im Supermarkt vor dem Konservenregal – was angehen konnte, auch hier hingen Rauchmelder an den Decken. In einem Aufzug – schon unwahrscheinlicher, es sei denn, der Melder war hinter der Metallverkleidung verborgen. Im Park inmitten von Bäumen und Büschen und unter Wasser in einem See. Langsam verstand ich: dieses Piepen kam nicht von außen. Es war in meinem Kopf. Nur ich konnte es hören.

Ich realisierte, dass der Ton sich veränderte, je nachdem, wo ich mich befand. Fuhr ich mit dem Rad ins Büro, wurde er erst lauter und schwoll dann wieder ab. Am Stadtrand war er kaum zu hören. Ich wollte ihn nun nicht mehr loswerden. Ich hegte und pflegte ihn, ich wartete auf ihn und war beruhigt, wenn er erklang, so wie andere dadurch beruhigt werden, dass sie ein volles Konto oder ein Haus besitzen – ich hatte stattdessen meinen Ton.

Nicht nur seine Lautstärke, auch der Klang veränderte sich. Er war nicht mehr so klar, seine Kanten zerfledderten; auch wurde er dumpfer, als verschwände er in einem Tunnel. Eines Nachts wachte ich von ihm auf. Er klang jetzt quietschend, rostig und knirschend, was mich in Panik versetzte, so dass ich beschloss, mich zu erheben und auf die Suche nach einem Ort zu machen, an dem seine Kanten wieder scharf wären.

Ich zog einen alten, löchrigen Pullover an und eine abgerissene Jeans, selbst erstaunt über die Wahl der Garderobe. Auf dem Weg zur Wohnungstür blieb ich vor dem Zimmer meiner Frau stehen. Ich klopfte nicht; in Wirklichkeit war sie schon lange nicht mehr meine Frau, wir hatten uns seit Monaten nicht mehr gesehen. Als ich am Zimmer der Kinder vorbeikam, ging ich hinein. Sie waren viel älter, als ich sie in Erinnerung hatte. Das Mädchen war kein Mädchen mehr, der Junge trug Flaum auf der Oberlippe. Ohne sie zu wecken schloss ich die Tür und stahl mich die Treppen hinunter, ängstlich auf das rostige Knirschen hörend, das sich wie eine Raupe durch meinen Kopf wand.

Draußen war es kühl. Ich stieg aufs Fahrrad und fuhr Richtung Zentrum; das Knirschen leitete mich. Und tatsächlich, je weiter ich fuhr, desto klarer und regelmäßiger wurde der Ton, bis er wieder rot und eckig war. Ich fuhr weiter bis zum Einkaufscenter, wo ich das Fahrrad vor einem Automaten abstellte. Der Ton in meinem Kopf war nun nicht mehr angenehm. Er wollte hinaus, das spürte ich. Meine Stirn schmerzte schrecklich, und als ich hinfasste, ertastete ich, dass sich etwas Scharfkantiges darauf abzeichnete und mit Macht nach außen drang. Gerade noch rechtzeitig öffnete ich eine Hand, um den Würfel, der aus meinem Kopf fiel, aufzufangen, einen roten Spielwürfel mit aus Punkten gebildeten Zahlen von eins bis sechs. Im Licht der aufgehenden Sonne, die mir im Rücken stand, betrachtete ich ihn. Selten hatte ich etwas so Schönes, Sinnvolles gesehen. Dann schob ich ihn in die in der Maschine dafür vorgesehene Öffnung. Es klapperte, und aus einem Schlitz kam ein Zettel. Ich fühlte mich befreit, weil das Piepen nicht mehr da war, und zog ihn heraus.

Erst zögerte ich, aber der Drang, zu wissen, was darauf stand, war groß und schließlich faltete ich ihn auf. Er war leer. Es war einfach ein Stück Papier – vorne und hinten nichts als Weiß. Darüber durchströmte mich große Erleichterung, jeder Satz, jedes Wort hätte schwer gewogen. Ich wendete mich vom Automaten ab und ging Richtung S-Bahn-Trasse. Das Rad ließ ich stehen, ich brauchte es nicht mehr. In den Bögen, über denen die Gleise verliefen, hatten Obdachlose Zelte aufgebaut, deren Farben im flachen, rötlichen Licht der Sonne leuchteten, und es standen Einkaufswagen mit Kleidungsstücken und Tüten herum. Eine Weile lang betrachtete ich sie. So war das also. Ich näherte mich einem der Zelte und öffnete den Reißverschluss. Bis auf eine Matte und einen fleckigen Schlafsack war es leer. Auf dieses, mein neues Bett legte ich mich und schloss die Augen. Ich war frei, frei und schwerelos.

 

Anette Violet

 

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freiTEXT | Julius Bonart

Blaue Ängste

Gestern habe ich in der Walk-in-Dusche unseres Strandhotels eine Fruchtfliege mit der Hand zerdrückt. Im Aschenbecher faulten Bananenreste; Fruchtfliegen legen ihre Eier vorzugsweise in die blauen Stellen. Die Fliege schwebte unterhalb des breiten Regenduschkopfs, regungslos, dem regenlosen Duschkopf zum Hohn. Erst wollte ich das Wasser anstellen, aber ein Insekt ertränken kann jeder. Ich entschied mich zur Jagd.

Die Mücke gab nichts auf verbleibende Fluchtwege: horizontal oder hinab. Als ich zuschlug, scherte sie nicht aus, stürzte nicht, sondern wählte den Steigflug, duschkopfwärts. Noch ein Händeklatschen und sie klebte rot in meiner Hand: Ein Blutrausch.

Ist es eine Fruchtfliege oder eine blutfette Mücke gewesen? Die Mücke, nach der C. in der vorletzten Nacht geschlagen hat? Am nächsten Morgen hatte C. Augenringe von dem Schlagabtausch. Sie trank einen Schluck Kaffee, noch einen, dann sprach sie es aus: Ich verlasse dich. Vielleicht sollte ich C. anrufen: Die Mücke, deretwegen du mich verlassen hast, habe ich gejagt und mit der bloßen Hand erlegt. Was ich alles mit der Hand kann, hast du mich immer gelobt.

Eine erlegte Mücke: der Höhepunkt des Tages. Mücke am Morgen und sonst nichts zu erledigen. Es folgte ein abschüssiger Resttag.

Heute Morgen habe ich mich aufgerafft. Ich gehe zum Strand runter. Vor mir Sand, der hinabläufig ins Meer grätscht. Die Wellen sind klein und kommen eng, sie schaben sich den Sand hinauf. In meinem Nacken: Die Hotels, die Stranddiskotheken, wo C. feiern geht, die Palmen wie aus sonnengebleichtem Plastik. Verbauung, Versiegelung, alles so arm an Farbe wie der Sand. Der Sound aus den Diskos: Weißes Rauschen, dunkle Beats. An der Wassergrenze trainiert ein weißer Mann mit Sonnenbrand: eine Kniebeuge. Ein brauner Krebs versucht im Krebsgang, der Komik zu entgehen. Der Himmel ist grauweiß, er blendet, flimmert die Palmen hinab. Sie wachsen aus Betonkübeln. Der Strand: Eine in Beton gefasste Buddelkiste. Man ist kein Kind mehr, bin ich Mann?

Eine bleierne Côte d’Azur. Nur das Meer ist farbig, blaustichig, kristallen mit grünen Einschlüssen. Dass man wegen gefährlicher Rippströmungen heute nicht baden darf, ist typisch für mein Problem: In das, was Farbe hat, kann ich nicht hinein.

C.s azurblaue Augen: So blau, dass es beinahe weh tut, wie der Himmel vom Flugzeug aus. Schon als Kind fiel ich in (oder auf?) sie hinein. Während der Schulzeit kamen wir zusammen. Ich begann, sie morgens von zuhause abzuholen; ihre Mutter lag betäubt im Gästezimmer, Tablettensucht, ihr Vater vögelte seine Neue, er war nur ab und zu da. Die Neue war zwei Jahre älter als C.

Es ist Januar, zur blauen Stunde, die Luft klirrt dem kommenden Frost voraus. Im Osten glüht der Himmel, im Westen: Blue Moon, der zweite winterliche Vollmond. Ich klingele, C. hat hinter der Haustür der elterlichen Stadtvilla auf mich gewartet. Sie saugt mich mit einem Kuss hinein, wir stolpern in die Riesenvilla. Zungen tasten Münder ab, Finger wühlen in meinem Schritt und zupfen Brustwarzen. Den ganzen Tag blödeln wir in ihrem Elternbett herum, ziehen uns gegenseitig aus und an, verschwenden keine Gedanken an die Klassenarbeit. Ich verdrehe ihr blaues T-Shirt zu einem Strang und würge sie ein bisschen, von hinten, ihr zur Lust. Sie will es so. Wir machen blau bis zur Besinnungslosigkeit.

Von da ab: Viele lange Wochenenden. Erholsam ist C.s Pool. Ein blauer Montag, wir schlagen auch den Dienstag drauf. Steht Karfreitag an, wird der Gründonnerstag blau. Die eine oder andere blaue Woche. Die ersten blauen Briefe. Du weichst aus, sagt C., doch ins Blaue gehe ich zu gern mit ihr. Ich fliege von der Schule, zocke Counter Strike, from Dusk to Dawn. C. macht Abitur und zieht zum Studieren weg.

Einmal komme ich sie besuchen und bekenne Farbe. Tage später erlebe ich ein blaues Wunder: Der Freund einer Freundin hat sie in der Mensa mit einem Kommilitonen gesehen, beim Händchenhalten. C. lässt sich von einem anderen flachlegen. Ich male mir aus, wie er auf eine Kettensäge reagieren würde – ob Blausäure besser funktioniert? Die Freundin beruhigt mich: Der hat ihr nur das Blaue vom Himmel versprochen, du musst kämpfen.

Immer war ich C.s Gladiator. Ich ziehe in ihre Stadt, mache eine Lehre, verdiene mein gutes Geld. Samstagnacht sehe ich C. auf der Tanzfläche mit ihrem steifen Germanistenfreund. Sie hat sich ihr dunkelblondes Haar hellblond gefärbt; es kontrastiert mit ihren azurblauen Augen. Sie trägt enge Jeans, sie sieht hinreißend aus. Irgendwann fasse ich Mut und tanze sie an. Mir ist egal, wo das fingerdünne Bürschchen aus der vergleichenden Literaturvorlesung steckt. Ich bin schon blau, sie breit, jeder Vergleich erübrigt sich für sie. Ihre Pupillen, die Iris wie eine blaue Sonnenfinsternis. Wir fingern und züngeln einander heiß, Sex im Auto bis der Horizont blaut.

Sie lässt sich darauf ein. Zum zweiten Mal miteinander ins Blaue, sagt sie. Ich verstehe nicht, was sie meint. Sie hat immer etwas Herablassendes mir gegenüber gehabt; ist sie blaublütig, weil sie sagenhafte Reichtümer von ihrem Vater erben wird? Ich glaube trotzdem, glücklich ist sie. Wir blödeln nächtelang im Bett herum, spielen seilweise, bis es hell wird, so wie sie es mag. Blaue Fesselmale an ihren Handgelenken. Sie will hart.

Gestern, an unserem zweiten Urlaubstag, hat sie mich verlassen. Wegen der Scheißmücke, deretwegen sie um den Schlaf gekommen ist. Aber wer zielt auch mit Fäusten auf Mücken? Hätte es gewundert, wäre C. am nächsten Morgen mit einem blauen Auge aufgewacht? Vor der Gefahr eines Querschlägers hatte sie mich mehrmals gewarnt.

Ich bin ins Hotel zurückgekehrt und ziehe die Vorhänge auf. Ich starre ins blaue Meer und versuche, mich selbst zu befriedigen, stehend. Ich denke an C., aber es gelingt mir nicht, mich an ihr selbstzubefriedigen. Mein Schwanz ist bläulich, ihn füttert armes Blut – oder mein Selbstmitleid. Ich habe einen Durchhänger.

Ich habe es dir eingeschärft, hat C. gesagt. Hart ist gut, sagt einer Halt, ist Schluss, und keine blauen Flecken. Es stimmt, seit der Schulzeit versuchte sie, mir ihre Spielregeln einzubläuen. Ich weiß nicht, ob ich je kapiert habe, was erlaubt war, ein Macker wie ich.

Da widerspricht etwas… Der Spiegel an der Badezimmerwand sagt: So siehst du nicht aus.

In Wahrheit habe ich die Dusche angestellt. Ein schneller Handgriff, ohne handgreiflich zu sein, ich bin ein Feigling. Der Duschregen zog die Mücke hinab, ohne weiteres Zutun. Unten drehte sie eine Runde, dann rutschte sie in den Abfluss. Die ganzen zehn Sekunden lang guckte ich nur zu.

C. kommt zur Tür hinein, sagt Hallo, aber nicht, wo sie gewesen ist. Geiles Wetter heute, der Himmel ist blau, warst du schon im Wasser? Ich weiß nicht, wie sie das macht, so beiläufig zu tun. Mir fällt nur Rippströmung ein. Ihre Schlagfertigkeit. Wenn ich nachts eine Sirene höre, stelle ich mir manchmal vor, sie würde mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren nach irgendeinem Unglück – einem versuchten Gegenargument. Ich bin blauäugig, aber nicht blöd. Ihrem Vater teilt sie jeden Monat eine Neue zu; Prokura erteilt er ihr. Sie bezahlt das Hotel, sie hat den geilen Job, Geschäftsessen in den Metropolen. Im Restaurant gibt sie zwanzig Euro Trinkgeld, schnippt verächtlich den blauen Schein hin. Hat sie auswärts geschlafen, es sich hart besorgen lassen, lässt sie mich den ganzen Tag nicht.

Ich bin allein mit meinen blauen Ängsten.

 

Julius Bonart

 

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freiTEXT | Everest Girard

SchICHten

Sitze in der ehemaligen Schaltstation des Fischereihafens Rostocks. So fängt es an. Am Hafen waren mal Fischer.
Fischfänger, die die gefangenen Fische stapelten, eine Schicht Eis, eine Schicht Fisch, eine Schicht Eis, eine Schicht Fisch, eine Schicht Schweiß, im Kern des Bootes. An Land vor der Schaltstation musste das Schiff also zuallererst von seinen Schichten im Kern befreit werden. Mit einer Schaufel. In den Kern zu gelangen war eine harte und kalte Arbeit. Und wenn das Schiff leer war, waren Kisten voller Fische aufgestapelt, und alles musste geschrubbt und sauber gewischt werden, damit am nächsten Tag eine neue Schicht beginnen konnte.

Sitze in der ehemaligen Schaltstation des Fischereihafens Rostocks. Mein Handy in der Hand, wische ich auf dem Display, sichte Seiten, tauche in die virtuelle Welt meines Smartphones ein, indem ich wische und wische und wische.
Da sind Bomben und da ist Hunger, da ist Gewalt und da Krankheit. Da sind Korallenriffe und da sind Zahnärzte. Descartes kommt plötzlich mit methodischem Versprechen, schon bin ich weiter.
Schicht für Schicht komme ich mir wie eine Archäologin vor, dennoch bleibe ich immer an der Oberfläche, ein Schweißfilm bedeckt langsam den Schutzfilm meines Smartphones, immer mehr Schichten trennen mich vom Kern und Algorithmen werfen mich auf mich zurück, erzählen mir meine Geschichte. Kein Eis, keine Fische.

Sitze in der ehemaligen Schaltstation des Fischereihafens Rostocks. Meine Schicht. Ich lese: Zwei Texte müssen aus meinem Kopf. Ein Kind hat Fieber, das andere braucht neue Schuhe. Die Texte müssen im Kopf gefangen bleiben, Schuhe bekommt das eine Kind erst, wenn das andere kein Fieber hat, dann erst können sie raus.
Ein Text kann bald geschrieben werden, weil alle schlafen, das kranke Kind hat kein Fieber, das gesunde keine Schuhe, dafür Fieber. Das Spiel fängt wieder von vorne an.
Meine Schicht endet, wenn alle schlafen.
Tief verborgen zwischen den Schichten das Wort „ich“.
Oder nicht?
Schicht für Schicht
Entdecke ich meine Schichten,
Haare, Schweiß, Schmutz, Haut, Fett, Muskeln und Knochen.
Die Frau und
der Mann,
das Diverse,
die Mutter
ohne Familie,
das Kind,
die Greisin,
der Mensch,
der Unmensch.
Das Glück, die Hoffnung, die Wut, die Angst,
der Geruch eines Neugeborenen,
die Liebe,
die Schreie,
der Wind,
das Ticken der Uhr,
die Stille.

Alle Farben ergeben schwarz, alle Schichten ergeben nichts. Ganz gleich, ob ich zwischen Schichten steckt oder aus Schichten besteht. Schon existiert ich nicht mehr und die Geschichte ist schon längst aus den Fugen geraten. Mein Ich aus Schichten nähert sich dem Nichts an.
Das Nichts und der Krieg, der in uns allen wohnt und draußen tobt. Der Krieg, der uns Angst macht. Der Krieg, der uns nackt macht. Der Krieg, der uns zermalmt.
Schicht für Schicht versuche ich das Nichts zu wärmen, wie man Wut oder Trauer Geborgenheit schenkt, damit sie schwinden. Ich packe das Nichts ein, es verschwindet nicht, es wächst.

Wir sitzen in der ehemaligen Schaltstation des Fischereihafens Rostocks. Wir frieren und wir frieren nicht in unseren Schichten.
Und Schicht für Schicht,
schichten wir
und fichten wir.
Ferner gichten wir
und lichten
und nichten.
Wir richten,
errichten,
vernichten,
bezichten.
Wir sichten,
wir gewichten
wir dichten.
Wir
verzichten
nicht.
Wir beginnen eine neue Schicht.

 

Everest Girard

 

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