Idealismus und Kulturpräkariat

Studie unabhängiger zeitgenössischer Literaturprojekte

 

Wie sieht die aktuelle, zeitgenössische Literaturpräsentation aus? Welche Personen stehen dahinter? Und wird das eine zeitlich begrenzte Randerscheinung, eine Subkultur, bleiben – oder bildet sich hier bereits die Literaturszene der Zukunft?

In den vergangenen Jahren haben sich zahlreiche unabhängige Literaturprojekte im gesamten deutschsprachigen Raum entwickelt. Sieben repräsentative Vertreter dieser neuen, breiten Bewegung werden in Fallstudien vorgestellt, ihre individuellen Ansätze und gemeinsamen Probleme offen gelegt. In drei Essays beleuchten Max Czollek, Marko Dinic und Josef Kirchner verschiedene regionale und interdisziplinäre Ausprägungen, stoßen auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede, Probleme und Lösungsansätze.

 

„Wir haben alle einen Brotjob und leben schon in einer gewissen prekären Situation. Aber wenn ich ein Einkommen lukrieren möchte, dann gehe ich nicht in den Kulturbereich. Klar hat jeder, der professionell im Kulturbereich arbeitet, Fair Pay verdient – aber es wäre naiv zu glauben, aus einem DIY-Projekt, in dem es um Literaturavantgarde geht, ein solides Einkommen erwirtschaften zu können. Da muss man etwas anderes machen, Schlagerfeste oder Techno-Partys, aber um Gottes Willen keine neuen Literaturveranstaltungen.“

Christian Winkler, hoergeREDE

 

„Ein Problem einer deutschsprachigen Gegenwartslyrik liegt heute vor allem in der Struktur ihrer Aufmerksamkeitsökonomie: der Betrieb hat Türsteher*innen. Von diesen hängt die finanzielle (und partiell auch soziale) Anerkennung als Lyriker*in ab, wie sie sich z.B. in Einladungen zu Festivals und Lesungen, der Bewilligung von Stipendien und Fördermitteln oder dem Interesse von Verlagen niederschlägt. Es steht zu vermuten, dass dieser Prozess nicht ohne Rückkopplung auf das Schreiben derjenigen bleibt, die den „Betrieb“ oder die „Szene“ um Eintritt ersuchen.“

Max Czollek

 

„Es ist natürlich komisch, weil man sich den Mechanismen des Marktes unterwirft. Das sehen wir auch ziemlich kritisch, weil wir naturgemäß davon überzeugt sind, dass das marktwirtschaftliche System nicht gerade ideal ist. Es ist komisch, eine Struktur aufzubauen, die grundsätzlich von diesem System entworfen wurde und man mit dem Aufbau dieses System auch wieder bedient. Das ist ein schwieriger Trade-off zwischen Haltung und den Wünschen für den Verlag und die Autorinnen und Autoren. Die Frage ist: Ist uns diese Systemkritik so wichtig, dass wir ein alternatives System aufbauen wollen?“

Jo Frank, Verlagshaus Berlin

 

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Idealismus und Kulturpräkariat

herausgegeben von Josef Kirchner

96 Seiten, Taschenbuch, 12,-

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Inhalt

Essays:
Türsteher und Radical Diversity.

Gedanken zur neusten deutschen Gegenwartslyrik
Max Czollek

Heterogenität und fehlendes Netzwerk
Überblick über zeitgenössische Literaturprojekte Österreichs
Marko Dinic
Idealismus und Kulturpräkariat, Vereinigungen und Ökonomisierung
Gegenwart und Zukunft zeitgenössischer Literaturprojekte
Josef Kirchner
Fallstudien mit:
  • 54stories | Saskia Trebing
  • Sofalesungen| Mariann Bühler
  • Sachen mit Wœrtern | Theresa Lienau, Anneke Lubkowitz
  • Kabeljau und Dorsch | Malte Abraham
  • hoergeREDE | Christian Winkler
  • Verlagshaus Berlin | Jo Frank
  • Bierglaslyrik | Oliver Käsermann

 

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Literatur ist Wissen! - das mosaik bei den Wissenstagen 2016

Wissenstage in der Wissensstadt Salzburg - und das mosaik ist mittendrin! An zwei Tagen präsentieren wir die Vielfalt literarischen Wissens und Kreativität.

Der Ort: AREAlab, Lasserstraße 10, Salzburg

>> zum vollständigen Programm der Wissenstage

 

unser Programm für euch

Fr, 4.11., 9:00: Local Heroes

Lesung und Gespräch mit Lisa Viktoria Niederberger und Marko Dinic

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Lisa Viktoria Niederberger

Die Salzburger Autorin Lisa Viktoria Niederberger vermag es mit ihrer an die Umgangssprache angelehnten Texte nahe an der Realität zu bleiben und die Erzählungen nacherlebbar zu machen.

Marko Dinic

Geboren 1988 in Wien, von da an unstetes Leben pendelnd zwischen Beograd, Stuttgart, München, Salzburg und Berlin, seit 2008 Studium in Salzburg. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, seit 2009 Veranstalter der unabhängigen Lesereihe KulturKeule und aktives Mitglied des Kunstkollektivs Bureau du Grand Mot.

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Fr, 4.11., 10:00-18:00 // Sa, 5.11., 10:00-19:00
Leselounge mit allen Ausgaben des mosaik inkl. mosaik21 und roll



Sa, 5.11., 19:00: mosaik setzt über

Lesung und Gespräch mit Tobias Roth und Marko Dinic

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Tobias Roth (Berlin) und Marko Dinic (Salzburg) lesen und diskutieren übersetzte Texte und das Übersetzen aus und in andere Sprachen zum Abschluss des Festivals.

Das mosaik bemüht sich um die Förderung der Übersetzungstätigkeit fremdsprachiger Texte ins Deutsche und vice versa. Die Praxis des Übersetzens sehen wir als Wissenstransfer - geographisch, chronologisch, politisch, soziokulturell, usw. Startschuss dafür war mosaik19 – BABEL: Mehrere längerfristig angelegte Übersetzungstätigkeiten in unterschiedliche Sprachen (Italienisch, Russisch, Bulgarisch, …) nahmen hier ihren Anfang und werden sich über die nächsten Ausgaben bis 2017 zu ersten Buchpublikationen entwickeln.

Marko Dinic

beschäftigt sich in vielen seiner Texte mit dem Transfer von Sprache und Wissen zwischen seinen beiden (sprachlichen) Heimaten, der Deutschen wie der Serbischen. In seinem Romanmanuskript „Als nach Milosevic das Wasser kam“ (Arbeitstitel) setzt er sich intensiv mit der Frage der Schuld und der Aufarbeitung der Jugoslawienkriege auseinander.

Tobias Roth

widmete sich u.a. Giovanni Gioviano Pontano (1429-1503), einem der wichtigsten Autoren der italienischen Renaissance. Die Gedichtsammlung „Baiae“ (Herbst 2016, Verlagshaus Berlin) ist einen Brückenschlag in eine chronotopische Region, mit einem der paradigmatischen europäischen Schübe von Wissensproduktion und Wissensanhäufung - die italienische Renaissance. In der Beschreibung bestimmer Koventionen der therapeutischen Praxis verbindet sich die Ästhetik der Textoberfläche mit dem in die Texte eingespeicherten Wissen.

>> Sei dabei!

50 000 Wörter stressen mich her, oder: WTF ist NaNoWriMo?!

Auf mosaikzeitschrift.at präsentieren wir in den kommenden Wochen einen Live-Versuch von Lisa Viktoria Niederberger den inneren Schweinehund zu überwinden und bei einem der größten Schreibprojekte der Welt teilzunehmen. Es geht um einen Monat. Es geht um das Schreiben.

"Also, wenn ihr im nächsten Monat im Kaffeehaus eine Irre mit Augenringen seht, die drei Stunden lang nur Soda Zitron und Espresso trinkt, währenddessen regelmäßig den Laptop anschreit oder Selbstgespräche führt, nur um ihn dann wahrscheinlich gefrustet zuzuschmeißen und sich Spritzer und Kuchen bestellt  - das bin dann ich."

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Was?

Im Jahr 1999 hat ein gewisser Chris Bathy in Amerika ein sogenanntes „ kreatives Schreibprojekt“ ins Leben gerufen, dessen Ziel es war – und noch immer ist – in einem Monat einen Roman mit mindestens 50.000 Wörtern zu schreiben. Was damals als Aktion in seinem Freundeskreis gedacht war, nennt sich heute NaNoWriMo – also National Novel Writing Month – und hat von Jahr zu Jahr mehr Teilnehmer. Weltweit dürften es mittlerweile hundertausende Menschen sein, die sich den wahrscheinlich scheußlichen Monat des Jahres aussuchen um ihre gesamte Freizeit der Schriftstellerei zu widmen. Es gibt dazu etliche Facebookgruppen und sonstige Online-Communities, wo man sich mit anderen Autoren vernetzen kann und über Schreibblockaden und ähnliches Austauschen kann. (Und mit seiner und mit seiner unglaublichen Produktivität angeben! Dazu kann man stehen, wie man will.) Außerdem gibt’s dann immer Spendenaktionen mit deren Erlös bisher zum Beispiel Bibliotheken in Laos oder Kambodscha gebaut worden sind.

Mehr über das ganze Konzept kann man hier oder hier nachlesen.

Die Grundidee ist aber seit den Neunzigern dieselbe geblieben: Der NaNoWriMo soll Autoren – egal, ob es sich dabei um professionell publizierte Schriftsteller oder Hausfrauen handelt, die zum puren Vergnügen semi-sadomasochistische Werwolfromane veröffentlichen, handelt – dazu animieren, jegliche Hemmungen zu verlieren und einfach drauf loszuschreiben. Auch vielleicht in dem Bewusstsein, dass es natürlich in so kurzer Zeit bzw. bei dem geplanten Umfang nicht (oder zumindest unglaublich schwer!) möglich ist, qualitativ hochwertige Literatur (was auch immer das heißen mag, überlasse ich den Literaturwissenschaftlern) zu produzieren.

"die wichtigsten Schreibaccessoires: Schokolade, stangenweise Zigaretten und endlich wieder eine Kaffeemaschine."

Die Selbstzweifel über die Qualität der verfassten Texte, die Ängste vor dem leeren Blatt, oder davor, den berühmten Flow zu verlieren, kennt nicht nur jeder Autor, sondern auch jeder, der einmal eine Seminararbeit oder Geburtstagskarte an einen entfernten Verwandten verfassen musste.

Der NaNoWriMo glaubt, die Lösung für dieses Problem gefunden zu haben – und ich stelle mich diesem November dem Selbstversuch.

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Wieso?

Ich gehöre zu diesen unzähligen Menschen, die ihre Kindheit (und ganz ehrlich, auch die halbe Zeit meines sogenannten Erwachsenlebenleben) mit dem Kopf in Büchern verbracht hat. Ich bin eine, die rgendwann mal beschlossen hat, Germanistik zu studieren, weil ich gerne lese und gerne schreibe, und dann auch irgendwann wieder beschlossen hat, das mit der Germanistik wieder zu lassen, weil es mir die Lust am Lesen und am Schreiben ordentlich versaut hat.

"Weil ich glaube, dass mehr schreiben eigentlich immer geht..."

Seit dem wird hemmungsloser gelesen und geschrieben, mal da und dort publiziert und sich mit Jobs, die mit der ganzen Literaturgeschichte ein bisschen was zu tun haben (Stichwort: erostepost, Literaturhaus), oder zumindest immer als herrliche Inspirationsquelle herhalten (Stichwort: Barkeeperin), bei Laune gehalten und mal mehr oder weniger fleißig geschrieben.

Ich nehme mir jetzt vor, mich diesen November vollkommen dem NaNoWriMo hinzugeben und rauszuhauen, was die Tastatur hergibt. Weil ich glaube, dass mehr schreiben eigentlich immer geht, weil es da viele Ideen gibt, aus denen ich schön länger was machen möchte. Und ich trotzdem hin und wieder eine echt faule Sau bin, die den Druck – den ich mir vom NaNoWriMo verspreche, vielleicht brauchen könnte. Wenn ich mir danach eine etwas geregelte Arbeitsmethode beibehalten könnte, wäre das natürlich ideal.

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Was?

Auf meiner Festplatte gammelt seit über einem Jahr ein Romanfragment herum, das ich eigentlich sehr mag. Die Arbeit daran habe ich aus vielen Gründen eingestellt: inhaltliche Ungereimtheiten,  Zeitmangel und ganz einfach auch, die Angst vor so einem großen Projekt. Ich schreibe eigentlich ausschließlich Kurzprosa. Bei allem, was länger als 15 Seiten ist, verlasse ich eindeutig meine Komfortzone. Auch das möchte ich im November ändern und deswegen die Arbeit an dieser stillgelegten Geschichte wieder aufnehmen. Zur Auflockerung sollen dazwischen aber sehr wohl auch kürzere Texte entstehen. Um auf die geplanten 50.000 Wörter zu kommen, sollte man ca. 1600 Wörter am Tag schreiben. Das sind bei mir ca. fünf Wordseiten und je nach Inspiration und Motivation ein Zeitaufwand von zwei bis fünf Stunden. Hilfe!

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Wie?

Ich habe mir fest vorgenommen, bevor der November beginnt, mein Romanfragment noch einmal durchzuarbeiten, damit ich da eine bessere Basis habe. Mir vielleicht noch weitere Gedanken zu Personen, Handlungssträngen, Schauplätzen etc. zu machen und vor allem, die wichtigste Frage zu klären: Wie komme ich von dem, was ich jetzt habe, dahin, wo ich hin will?! (Klingt gerade sehr utopisch, aber man kann es ja probieren).

"Ich mag es, eine leichte Geräuschkulisse um mich herum zu haben, mir keine Gedanken über die Musik machen zu müssen, die ich dazu hören möchte und nicht selber aufstehen zu müssen um sinnlose Schreibzeit mit Kochen oder Getränkeholen verbringen zu müssen"

Stichworte oder notwendige Recherchen für Kurzgeschichten vorher schon zu erledigen wäre auch noch der Plan. Genauso wie Hamsterkäufe was die wichtigsten Schreibaccessoires betrifft: Schokolade, stangenweise Zigaretten und endlich wieder eine Kaffeemaschine.

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Wo?

Ich bin eine Kaffeehaus und Beislschreiberin. Immer schon gewesen. Ich mag es, eine leichte Geräuschkulisse um mich herum zu haben, mir keine Gedanken über die Musik machen zu müssen, die ich dazu hören möchte und nicht selber aufstehen zu müssen um sinnlose Schreibzeit mit Kochen oder Getränkeholen verbringen zu müssen. Außerdem hilft mir das Schreiben in der Öffentlichkeit, nicht alles sofort hinzuschmeißen, wenn ich mal hänge. Zuhause würde ich dann vielleicht einfach Wäsche waschen, mir sinnloses Zeug auf youtube ansehen oder schlafen gehen. Das geht in einem Lokal halt alles schwerer. Außerdem muss ich beim Schreiben immer unglaublich viel Rauchen und ich mag es nicht, wenns in meiner Wohnung so stinkt. Daheim geschrieben, wird nur, wenn zu wenig Zeit ist, um irgendwo rauszugehen oder das Wetter echt scheiße ist. Dafür ist dann die Schokolade.

über das Schreiben sprach Lisa auch im Kreativraum...

und außerdem?

Wie es mir mit meiner NaNoWriMo Erfahrung geht, wird jetzt das nächste Monat lang einmal wöchentlich hier im Tagebuchstil dokumentiert.

Also, wenn ihr im nächsten Monat im Kaffeehaus (Grundvoraussetzung: Raucher, W-Lan und Streckdosen!) eine Irre mit Augenringen seht, die drei Stunden lang nur Soda Zitron und Espresso trinkt, währenddessen regelmäßig den Laptop anschreit oder Selbstgespräche führt, nur um ihn dann wahrscheinlich gefrustet zuzuschmeißen und sich Spritzer und Kuchen bestellt  - das bin dann ich.

Lisa Viktoria Niederberger

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Lisa Viktoria Niederberger, geboren 1988 in Linz, lebt und arbeitet in Salzburg. 2014 gewann sie den Wettbewerb „Wir lesen uns die Münder wund“ und veröffentlichte ihren Text „Die Kunst des Eischlofns“ in „X“, der Kurzprosaanthologie des mosaik. Veröffentlichungen in diversen Zeitschriften und Anthologien.


NEU: Birgit Birnbacher - Wir ohne Wal

Birgit Birnbacher, langjähige Weggefährtin des mosaik, veröffentlicht diesen Herbst ihr Prosadebut im Salzburger Jung und Jung-Verlag. Ab heute ist es erhältlich - wir haben schon mal reingeschaut...

Viel war die Rede von denen über 30. Doch was machen die mit Mitte 20? Ausbildung, studieren, etwas anderes, alles anders. Feiern, die Welt verbessern, labern. Aber das Leben: Ist das schon das Leben? Ist das alles schon ernst? Während sie noch darauf warten, dass es beginnt, müssen sie erkennen, sie sind längst mittendrin. Und aus diesem Mittendrin stürzt sich jemand von der Brücke und einer schaut zu.

"Bei uns ist ja der Himmel fast immer weiß und der Verkehr gleichmäßig laut. Er ist einfach da und irgendwann nicht mehr, und obwohl er ein Wal über einer Stadt ist, bemerkt man ihn kaum."

>> Leseprobe

"Birgit Birnbacher muss ich hier nicht vorstellen. Auch nicht ihre haarsträubende Beobachtungsgabe und ihr Stil, diesen Sprachfluss, der Atem und Klangfarbe an sich hat, in dem die Ebenen von Erinnerung, Gegenwart, Vorgang und Vorstellung ineinander übergehen. Und ganz sicherlich nicht das, was auch die neuere Germanistik bereits als Birnbachersche Ellipse in den Blick genommen hat, und was immer wieder die Plötzlichkeit des Geschehens, des Denkens und Erlebens in Sprache deutlich, also das, was während schon das nächste. Wir ohne Wal, Birgit Birnbachers Debut, webt sich aus zehn Geschichten zu einem Roman zusammen. [...] Die Geschichten konzentrieren sich auf zehn Beobachterfiguren, in deren Spiegelkarussell der Roman zum Reigen wird."

Tobias Roth

die vollständige Rezension von Tobias Roth erscheint in mosaik21 (November 2016)

Wir ohne Wal ist ab heute, 8. September 2016, erhältlich.

Birgit Birnbacher: Wir ohne Wal. Salzburg, Jung und Jung, 2016. 182 Seiten, gebunden, € 18,-

 

Weitere Texte von Birgit findest du in >> mosaik6, >> mosaik8, >> X-Kurzprosa, >> mosaik11 & >> mosaik15

Fotos: (c) Josef Kirchner


"Niveau, weshalb, warum!?" - die mosaik-Lesereise Deutschland

5 Städte, 7 Lesungen, 21 AutorInnen, 3800 Kilometer

Nach der famosen Reise durch Bayern begaben wir uns erneut auf Roadtrip und packen Autorinnen und Autoren ein, um mit Ihnen den Westen, Osten und Norden Deutschlands zu erobern: vom Wohnzimmer bis zum Technoclub, vom Kulturcafé bis zur Buchdisko - und das druckfrische mosaik18 war mit im Gepäck!

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Mo, Köln, Weltempfänger

"Nein, ich lecke sicher nicht Peters Füße!"

Die erste Strecke war nicht nur die längste, sondern auch die mühsamste. Zwei Stunden Stau und so. Dafür wurden wir in Köln im wunderbaren Weltempfänger von Christoph Danne, Anke Glasmacher und Miriam Berger empfangen.

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Berlin

Wenn du in Berlin aus dem Auto steigst, die schwere Holztür zur Unterkunft öffnest und dich dahinter ein großgewachsener Herr, einzig mit einem Leopardenfellmantel bekleidet, fragt, ob du "rein willst", bevor dreißig Herren in aufreizenden Lederklamotten an ihm und dir vorbeigehen - dann denkst du dir: Berlin, du kannst so Klischee sein!

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Di, ORi

"Pizza, Pasta, Spielzeuglaster."

Bärlin erwartete uns: Im ORi trafen wir Matthias - es lasen Miku Sophie Kühmel, Nora Deetje Leggemann und Philipp Schulz mit uns.

 

Mi, Kater Blau

"Sperrstunde ist ein Austriazismus."

Es gibt den Moment im Leben, an dem man weiß: ok, das ist jetzt wohl der geilste Ort, an dem man je lesen wird... Willkommen im Kater Blau:

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Der Abend begann mit einer Gesprächsrunde mit Vertretern von Sachen mit Woertern, SuKuLTuR, Metamorphosen und uns. Es wurden die Gemeinsamkeiten und Schwierigkeiten debattiert, ein neues Literaturprojekt zu starten und zu betreiben.

https://www.facebook.com/sachenmitwoertern/photos/a.483837824994073.114331.200967913281067/1137883316256184/?type=3

"Dass digital zu produzieren auch koste, betonte Josef Kirchner von der österreichischen Literaturzeitschrift mosaik, die kostenlos vertrieben wird. Auch in Blogs stecke viel Arbeit, deren Produkt hinterher gratis konsumiert werde. Da liege der Zwiespalt: 'Einerseits will man prinzipiell Niedrigschwelliges produzieren, andererseits aber nicht die Gratiskultur fördern.'"

[zum Artikel in der taz]

[zum Beitrag auf Deutschlandradio Kultur]

https://soundcloud.com/user-694573966/podiumsdikussion-der-magazine-metamorphosen-mosaik-sachen-mit-wortern-und-dem-verlag-sukultur

 

Im Anschluss lasen Jannis Poptrandov, Doris Wirth, Karl Clemens Kübler und Lisa Viktoria Niederberger.

 

https://soundcloud.com/user-694573966/lisa-viktoria-niederberger

[zu den Aufzeichnungen der übrigen Lesungen]

 

Do, Buchdisko

Von der Disko in die Disko. Nach dem Acidbogen benötigten wir erstmal etwas Ruhe und zogen uns in die beschauliche Buchdisko in Pankow zurück. Zusammen mit Katrin Theiner konnten wir uns intensiv den Texten widmen und Kräfte für die nächsten Tage sammeln.

 

Fr, Hamburg, Chavis

Hamburg tat dies, was es am besten kann: ein Sauwetter haben. Wir machten das beste draus und vergnügten uns an der Reeperbahn. (Lesend im Chavis, natürlich...). Auf Einladung der Hafenlesung lasen Elisa Helm, Rick Reuther und Claire Walka. Marko Dinic las spontan die deutsche Übersetzung des anwesenden Palästinensischen Dichters Ghayath Almodoun.

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Sa, Erfurt, Kunststücke

Auf halben Weg heim liegt Erfurt. Dort startete vor kurzem die Reihe "Kunststücke" - bei der zweiten Auflage der WG-Lesungen waren wir zu Gast. Mit uns lasen Mario Osterland und Peter Neumann. Musik kam vom unglaublichen littlemanlost.

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So, Salzburg, Atelier du Bureau

"Es gibt so Dörfer, da denkst dir: Zieh aufs Land und verreck!"

Machen wir uns nichts vor: Sieben Tage im selben Auto, im selben Zimmer. Jeden Tag Autofahren, jeden Abend Lesung und Party. Es gibt schlimmeres. Aber wie das all die Rockbands gemacht haben, ohne sich die Schädel einzuschlagen, bleibt uns ein Rätsel. Da tut so ein herzlicher Empfang wie am letzten Abend im Atelier du Bureau gut. Dort kreuzten sich die Lesereisen von uns und von Nico Feiden, der in Salzburg sein neues Buch (findet ihr auch in mosaik18) vorstellt.

 

Alle Fotos findet ihr hier.

Vielen Dank an Lisa Viktoria Niederberger, Marko Dinic und Peter.W. - und an alle unsere Freunde und Partnerinnen überall, die uns bei der Organisation unterstützt haben. Ohne euch gäbe es keine mosaik Lesereise.

Du willst das mosaik auch in deiner Stadt? schreib@mosaikzeitschrift.at

 

 


mosaik20 - was jetzt passiert...

 

Kaum ist der Einsendeschluss vorbei, vergisst man leicht darauf. Doch wenn eure Arbeit endet, beginnt unsere erst.

 

Was ihr gemacht habt:

Ihr habt uns wunderbare, höchst unterschiedliche Texte, Fragmente, illustrierte Prosa und ganze Kurzprosareihen geschickt - alles zum "Thema" Zweifel zwischen Zwieback. Dort kommt der Junge von der Zwieback-Packung vor - und die Zwieback-Brösel im Bauchnabel.

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Was wir jetzt tun:

Alle Texte wurden anonymisiert und standardisiert und so der Jury übergeben. Ungefähr 500 eng bedruckte DIN A4-Seiten sind das... Diese jungen und fähigen AutorInnen und Menschen aus dem Literaturbetrieb werden in den nächsten Tagen eure Texte studieren, drüber diskutieren und uns anschließend eine begründete Auswahl präsentieren.

Und dann geht der Spaß erst so richtig los:

  • Lektorat
  • einheitliche AutorInnenfotos und -biographien
  • Layout, Satz & Grafik
  • Drucklegung
  • Buchpräsentation
  • #famefamefame

 

Was ihr jetzt tun dürft:

Hände hinter dem Kopf verschränken. Geduld haben. Oder die Zeit nutzen und Schreiben und Lesen:


Ausblick: Was 2016 bringen wird.

In zwei Teilen haben wir auf das vergangene Jahr zurückgeblickt. Nun wird es Zeit, in die Zukunft zu planen. Ein erster Übersicht über das, was euch im kommenden Jahr erwartet.

Mit 4 Ausgaben 2016 soll mosaik auch weiterhin eine niederschwellige Plattform für junge Schreibende darstellen: Texte aller Art sollen unkompliziert und ungebunden veröffentlicht werden können. Neben literarischen Texten sind ausdrücklich auch nichtliterarische Textsorten wie Essays, Kommentare oder Forschungsberichte und auch Rezensionen, Interviews sowie Veranstaltungsberichte erwünscht. Im Jänner erscheint mosaik17, mosaik18 und 19 folgen im Frühjahr, mosaik21 im Herbst.

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mosaikzeitschrift.at

Alle Ausgaben werden auch in Zukunft digital angeboten. Denn auch wenn die Printversion dank eurer Mithilfe nicht nur in Salzburg sondern in vielen Städten im gesamten deutschsprachigen Raum erhältlich ist, ist die PDF-Version ein gern gesehener Zugang. Doch online wird noch mehr passieren:

Das Advent-mosaik versorgt jeden Advent täglich mit neuen Texten von 24 AutorInnen, und in der Reihe freiTEXT stellen wir jeden Freitag einen Prosa-Beitrag einer anderen Autorin/eines anderen Autors vor. Eine weitere Reihe stellen wir euch in Kürze vor.

Sowohl die freiTEXTe als auch das Advent-mosaik werden auch 2016 wieder als kostenlose eBook-Anthologie erscheinen. Informationen zu AutorInnen und Ausschreibungen werden laufend über mosaikzeitschrift.at vermittelt.

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Buchprojektequadrat_zwieback

mosaik20 soll in Tradition von mosaikX erneut als Kurzprosaanthologie erscheinen. Ein entsprechender Aufruf endet am 3. März 2016. Im Anschluss wird eine unabhängige Jury aus Menschen aus dem Salzburger Literatur- und Kulturbetrieb anonym die Auswahl der Texte vornehmen. Ein intensives Lektorat und ein bibliophil hochwertige Produktion runden das Projekt ab. Zu diesem Zweck wurde 2015 der Imprint edition mosaik im Verlag Neues Leben Salzburg gegründet – das Projekt grenzt sich dadurch von der allgemeinen Verlagsarbeit ab, sichert sich jedoch rechtlich über diesen ab.

Weiters wird die edition mosaik weitergeführt und ausgebaut. 1.1, Peter.W. - Schulterratten, geht in die zweite Auflage, 2.1 erscheint im Februar mit hochqualitativer Lyrik, 2.3 und 2.4 im Frühjahr mit Essays bzw. Kurzprosa - jeweils im Dialog mit spannender bildender Kunst und dem bereits bekannten Rahmenprogramm. Wir sind schon ziemlich aufgeregt.

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Lesungen

2016 ist die gewohnte Geburtstagslesung zur Präsentation von mosaik17 im Jänner und die dritte Auflage der Lesung studentINNENfutter in Kooperation mit der SAG am 7. Juni im Literaturhaus geplant. In Planung sind zudem zwei Lesereisen, die uns im Februar nach Tirol und im April nach Deutschland führen werden.

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Kooperationen

In Zusammenarbeit mit Labor L’art, dem Netlabel des Bureau du Grand Mot, gibt es Pläne für literarische Projekte innerhalb des Labels: Neben klassischen Lesungen sollen insbesondere experimentelle literarische Formen sowie crossmediale Inhalte gefördert und umgesetzt werden. Zudem soll die Kooperation mit der KulturKeule beibehalten und ausgebaut werden. Die freundschaftlichen Beziehungen zu unabhängigen Literaturzeitschriften im deutschsprachigen Raum werden aufrechterhalten und ausgebaut. Mit den Fisci di Carta aus Genua werden Kooperationsprojekte vorbereitet.

Ein Höhepunkt wird die Kooperation mit einer Großveranstaltung am Jahresende (bloß noch nicht zu viel verraten) und das damit einhergehende Buchprojekt sein. Neue Herausforderungen für uns - neue Inhalte für euch.

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Finanzierung

Da sich das Angebot des mosaik insb. 2015 stark erweitert hat, sind wir nun vor neue (auch finanzielle) Herausforderungen gestellt. Die Ausweitung erfolgte zum einen aufgrund unserer Begeisterung, zum zweiten aufgrund der stärkeren Verbindung mit dem Bureau du Grand Mot sowie befreundeten Literaturzeitschriften und den damit verbundenen neuen Ideen und Inhalten, und nicht zuletzt auch aufgrund der gestiegenen Nachfrage von Seiten der AutorInnen gleichwohl wie auch vonseiten der Lesenden. Das mosaik ist in seinem fünften Jahr zu einer festen Größe in der (Salzburger) Literaturlandschaft geworden und bereit, die aufgenommene Arbeit in den nächsten Jahren zu intensivieren beziehungsweise auszuweiten.

2016 bringt neue (zeitliche wie finanzielle) Herausforderungen, denen wir uns gerne stellen und den wir mit unserem steten Fokus auf inhaltlicher wie äußerer Qualität begegnen wollen. Damit können nicht nur Autorinnen und Autoren stärker gefördert, sondern auch junge Literatur vermehrt in der Gesellschaft verankert werden. Gehen wir es an!

euer mosaik

Beitragsbild: Filmdreh "in the cloud with sea sounds", Foto (c) Mark Prohaska


Eine lohnenswerte Reise

Ein alter Passagierdampfer. Dahinter zahlreiche Segel von anderen Schiffen vor einem Himmel, der aussieht wie vergilbtes Papier. Die ersten Assoziationen von Abenteuer und Entdeckergeist, historischer Romantik und Realität werden nicht enttäuscht werden: Matthias Engels legt mit Die heiklen Passagen der wundersamen Herren Wilde & Hamsun einen ansprechenden (literatur-) historischen Roman vor. Gut recherchiert, gut arrangiert.

"Kurz nach Neujahr 1882 erreichte ein junger Mann nach seiner Überfahrt von England den Hafen von New York. Längere Planungen und vielfältige Korrespondenzen waren der Reise vorausgegangen und wenn alles gut liefe, würde sein Aufenthalt ein großer Erfolg werden."

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"Kurz nach Neujahr 1882 schiffte sich ein junger Mann für die Überfahrt von Bremerhaven nach New York beim Norddeutschen Lloyd ein. Wie aus heiterem Himmel hatte sich die Gelegenheit geboten und er hatte nicht gezögert, sie zu ergreifen."-

Fast zur selben Zeit brechen zwei der wichtigsten Figuren der Literaturlandschaft des späten 19. Jahrhunderts zum selben Ziel auf: Amerika. Was für den einen eine Luxusreise zu Lesungen und Konferenzen werden soll, ist für den anderen die letzte Hoffnung der heimatlichen Tristesse des (noch) nicht entdeckten Schriftstellers zu entfliehen. Die Ausgangslage von Oscar Wilde und Knut Hamsun könnte kaum unterschiedlicher sein.

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"Für die Wohlwollenden, Geduldigen & Unentbehrlichen"

 

Auf 450 Seiten entwirft der Buchhändler Matthias Engels ein Parallelportrait zweier Herren, die unabhängig voneinander ihre Erfahrungen in der Gesellschaft und im Literaturbetrieb gemacht haben. Wilde trifft wichtige Personen des Zeitgeschehens, die weniger die Handlung vorantreiben als das intellektuelle Interesse der LeserInnen bedienen - mitunter wähnt man sich in einem Bill Bryson-Roman, wenn man in einem der zahlreichen Exkurse von Edison die Glühbirne erklärt bekommt oder lernt, was Chirologie ist:

"Lassen Sie uns nun die Finger getrennt vom Rest der Hand betrachten:
Der erste Finger wird als Diktator, Gesetzgeber, als Zeiger des Ehrgeizes angesehen. Wenn dieser Finger ungewöhnlich lang und fast gleich dem zweiten ist, sind alle diese Tendenzen sehr ausgeprägt. [...]
Der Charakter wird maßgeblich durch den Daumen abgebildet: [...]
Je kürzer und dicker die Partie um den Nagel ist, desto unregierbarer ist das Temperament dieser Person. Solche Menschen haben keine Kontrolle über sich selbst und werden beim kleinsten Widerspruch in blinde Wut verfallen. Diese Erscheinung wurde auch als Mörderdaumen bekannt, weil viele, die einen Mord in einem verrückten Anfall von Leidenschaft begangen haben, diese Art von Daumen besaßen."

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Hat man diesen ersten Teil überwunden und weiß man nach etlichen Wiederholungen ausführlich, welche Kniebundhosen der groß gewachsene Wilde zu welcher Oberbekleidung und Frisur getragen hat, so konzentriert sich der Rest des Buches auf die interessanten Biographien der Autoren und der ihnen nahestehenden Personen. In den Details, die konsequent in den Mittelpunkt gestellt werden, bekommt man einen Überblick über das Zeitgeschehen und den Zeitgeist eines ausgehenden Jahrhunderts und erfährt ganz nebenbei, wie sich Häftlinge in britischen Gefängnissen damals die Zeit vertrieben haben.

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Doch während die Biographie von Wilde nach der Rückkehr nach Europa immer mehr nach unten zeigt, kann jene von Hamsun nur nach oben gehen. Während ersterem der offene Umgang mit seiner Homosexualität zum Verhängnis wurde, veröffentlichte letzterer mit Hunger jenes autobiographisch angehauchte Werk, das ihm erstmals die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit bescherte. Doch jeder Ruhm ist vergänglich. Dass Hamsun seine Literaturnobelpreismedaille Joseph Göbbels schenkte, wird ihm nach dem Krieg und am Ende des Buches ebenso zu Fall bringen.

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behutsam Erfundenes

 

Engels hält die Freiheit des historischen Erzählens hoch. Die heiklen Passagen der wundersamen Herren Wilde & Hamsun ist kein populärwissenschaftliche Nacherzählung, wie Engels im Nachwort festhält: "vielmehr nimmt er sich die Freiheit, mit den (oft widersprüchlichen) Quellen zu spielen und diese zu einem So-könnte-es-gewesen-sein zuzuspitzen". Es ist dies eine Herangehensweise, die in den letzten Jahren unter anderem Michael Köhlmeier mit Zwei Herren am Strand populär gemacht hat.

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Insbesondere das geschichte Arrangement von Briefen, Zeitungsartikeln und sonstigen historischen Quellen fällt auf: Gekonnt vermitteln kurze geographische und meterologische Berichte am Anfang der Dokumente einen Überblick über die Ausgangslage. Trotz der Episodenhaftigkeit, die eine inhaltlich motivierte Konzentration auf einzelne Abschnitte bedingt, werden die einzelnen Details durch die verbindende Prosa gefühlvoll und mit exakter Sprache zu einem flüssigen Ganzen verwoben.

10.08.1888 - Kopenhagen, Dänemark

55°40'25.262" Nord | 12°34'05.329" Ost

Ein kräftiges Tief vom Nordatlantik verdrängt warme Luft aus dem Süden und über Russland. 46° Fahrenheit.

Der Feuilleton-Redakteur der Politiken, Edvard Brandes, saß mit einer Hinterbacke auf der Kante seines Schreibtisches und sprach aufgeregt auf einen Gast in seinem Büro ein, der im Lehnstuhl ihm gegenüber Platz genommen hatte. [...]
"Behrens", sagte er, "Können Sie sich denken? Als ich heute Morgen an der neuen Ausgabe arbeitete, kam ein junger Norweger und wollte mit mir sprechen. Und natürlich hatte er ein Manuskript in der Tasche! Aber das interessierte mich anfangs weniger als der Mensch selber."

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Die heiklen Passagen ist Unterhaltung und legere Bildung zugleich, verbirgt sich jeodch hinter einem unnötig sperrigen Titel. Der offensichtliche Rechercheaufwand macht sich bezahlt, die abwechslungsreiche Gestaltung rechtfertigt den Umfang - dem kleinen Ein-Frau-Verlag Stories & Friends ist ein auch äußerlich schönes Buch gelungen, das eine Nische für bibliophile und literaturbegeisterte LeserInnen füllt.

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Lisa Viktoria Niederberger & Josef Kirchner

Beitragsbilder (c) mosaik


KulturKeule: Lyrik von Jetzt 3

Die wichtigsten Stimmen der jungen deutschsprachigen Lyrik in einem Band. Autorinnen und Autoren unter 35 aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein.

Die Anthologie versammelt 84 junge Lyrikerinnen und Lyriker aus einem geografischen Raum von Flensburg bis Bozen, von Basel bis Wien.

Die Herausgeber und Kuratoren Max Czollek (Deutschland), Michael Fehr (Schweiz) und Robert Prosser (Österreich) haben sich der Überschreitung nationaler Grenzen verschrieben. »Lyrik von Jetzt 3. Babelsprech« ist ein erster Versuch, neue LyrikerInnen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum einer interessierten Öffentlichkeit vorzustellen.

u.a. mit Marko Dinić, Martin Fritz (mosaik3,12,15), Irmgard Fuchs, jopa jotakin (mosaik15, S. 9), Frieda Paris (mosaik9, S. 8) Martin Piekar (mosaik15, S. 8), Rick Reuther (mosaik12,15), Tobias Roth (mosaik7,8,9,13,15), Alke Stachler, Gerd Sulzenbacher (mosaik15, S. 22)

Lyrik von Jetzt 3. Hg. von Max Czollek, Michael Fehr und Robert Prosser. Wallstein, ca. 300 S., € 19,50.

Mehr Texte von AutorInnen und Autoren finden sich im neuen mosaik16.


 

Name

Anstatt zu sagen, sie heisse Judith, sagte sie immer, sie verheisse Judith.
Dies ist ihr nicht unterlaufen. Es schien ihr dann, sie könne noch immer erscheinen.

Judith Keller


 

aufschießen einer leine

bis es, in den frühen morgenstunden, nach endlosem warten, endlich heißt, ein seil sei gefunden, verknotet, bis in den letzten strang, heißt, das durcheinander voneinander zu lösen, es wie einen gürtel zu tragen, mit ratloser hand auf der offenen schnalle, einer hand, die, zum lachen weit aufgerissen, schreit, kontext, einordnen, zwangsbasis, eine, nach der man, vorausgesetzt voraussetzung erfüllt, zum handeln verpflichtet sei, einem handeln, das sich in sich von sich unterscheide, einem handeln aus dem begriff seines urteils über sich selbst, das, zum ganzen verknotet, ein hindernis sei, eines zu lösen und überhaupt genug davon zu reden sei bereits farbe, studieren sei immer bereits muster gewesen, mit anderen geteilt, sei erinnert, zur verfügung verdammtes konzentrieren, aufschießen, fadenkreuzfokus und leine, das harre schon stunden, jahrhunderte, der sekunde, sei, immer sich selbst bei den schlimmeren wunden, sei, diese tiefer vergessen, blockieren, dann herein und verwandeln, sei voriges ohnehin zu zerlegen, sei dieses, sei ihre finger nach vorne, diesen finger zurück, sei entscheiden, sei jetzt

Niklas Lem Niskate


 

bilder in bildern

für Tristan Marquardt

a.)

diese stupende liebe für zwei / eben das / was zusammengehört / sage ich / während ich übers geländer ausspucke und die spucke sich im moment des asphaltaufschlags in ein nest für zwei fremde verwandelt

                                                                              /

und von beschiss zu beschiss fault der
sinn / zerfasert das gestülp eines im-
manenten innen&außen / massiert
die blutenden fisuren / wo widrig noch
das falsche wort ist und immer etwas
anderes die gesichtsläufe dominiert

b.)

wo einer scheitert baut der nächste
schon sein einfamilienhaus / die ge-
dehnten wäscheleinen / die torbögen &
gärten / ganze jugenden die sich leicht
ins haar verknoten lassen und einem
spaß garantieren / das HAHAHA des nachbarn
hört man durch die hohe hecke & schließlich
durch den stacheldrahtverhau

c.)

am morgen strecken sich die krähne erstmal dasz es knackt & pfeift & die stahlglieder unterm sägblattzischen einen auf hofdame spielen wenn man dem ganzen überhaupt beachtung schenken will denn ganz so einfach will es nicht sein an so einem morgen wo manches ureigentlich vor uns tritt

/

manche stellen im gras sind nicht grün sondern
ausgegilbt von der sonne / häuser ruhen willkür
lich in der landschaft / der wind weht erst vom
osten dann vom süden herr /menschen geben
sich erst die eine hand dann die andere / libellen
fliegen auf / wasser träumt von hasenscharten [1]

Marko Dinic

[1] fragmente /wörtersammlungen: glatzig / brodem / gekröse / sekretieren / karzinös / virulent kaskade / unrat / salpeter / vomieren / gedanken zu blumenberg: die reziprozität des widerstands und der daseinssteigerung / wie sah ich wohl als kind aus / schlachthaustheater / die bearbeitungen / next three days / fürs manuskript: überall ist nichts zu sehen / was soll das nun bedeuten?

 


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"Wir sind zu alt für diesen Scheiss!" - Lesereise Bayern

Weil man ja auch mal raus muss haben wir kurzerhand Lisa Viktoria Niederberger und Marko Dinic eingepackt und sind auf Schweinsbraten-Tour zu unseren bajuwarischen Nachbarn gefahren. Unzählige Zugstunden, Frühstücke am Nachmittag und das beständigen Suchen nach öffentlichem W-Lan später kamen wir zu dem Schluss: So ein Rockstardasein ist nicht leicht.

Inklusive Texten von Alke Stachler, Lisa Viktoria Niederberger und Franziska Baur.

Alle Fotos hier.

Die Lesereise in Zahlen

  • 637 Kilometer Zugfahrt in 8:32 Stunden
  • 48 mal folgende Frage an wechselnden Orten: "Gibbs do Wee Lan?"
  • 22 neue Wörter gelernt ("Was heißt denn 'pfriemeln'?" - "Kletzln." - "Aha. Und was heißt 'kletzln'?")
  • 14 Beiträge von 7 AutorInnen an 3 Tagen in 3 Städten
  • 1 abgebrochener Zahn
  • 0 konsumierte Schweinsbraten (eine Schande!)

Abend 1: München

Zu Gast im Salon Irkutsk - bei Borschtsch, Wodka und alten Bekannten. Zumindest empfanden wir so die Stimmung. Vielleicht lag das an den Autorkollegen vor Ort, die uns besucht haben. Auf der Barhocker-Bühne wurden wir unterstützt von Ricarda Kiel, Franziska Baur, Katrin Baumer und Fabian Bross.

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Abend 2: Pfaffenhofen

Den Schwung des ersten Abends konnten wir nicht ganz in den nächsten Tag mitnehmen. Wir wussten nicht genau, woran es lag, aber zumindest teilweise hatten wir noch Nachholbedarf in Sachen Schlaf während andere vergeblich offenes W-Lan in der 25 000 Einwohner-Stadt suchten. Und plötzlich stehst du vor einem riesigen Banner an der Hauswand des Kreativquartiers "Alte Kämmerei".

Nur zwei Lesende bedeutete die stärkere Konzentration auf die vorgetragenen, längeren Texte und eine intensivere Diskussion im Anschluss. Marko führte die PfaffenhofenerInnen auf einen Spaziergang durch Salzburg und Lisa entschied sich spontan, noch einmal eischlofn aus X zu lesen. Krönender Abschluss: das Single-Kassetten-DJ-Set.

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Abend 3: Nürnberg

Nürnberg soll ja schön sein. Tja, wir nahmen die Stadt im klassischen Tournee-Stil wahr: Ankunft - Hotel - Auftritt - Party. Das Team des Salon Regina empfing uns mit offenen Armen und ermöglichte uns einen überaus angenehmen Abschluss. Neben Franziska, Katrin und Fabian stieß auch Alke Stachler aus dem benachbarten Augsburg dazu und ergänzte den abwechslungsreichen und gemütlichen Abend.

Alle Fotos hier.

Die Texte

Als Nachlese noch eine kleine, lose Sammlung von Texten der Tour von Alke Stachler, Lisa Viktoria Niederberger und Franziska Baur.

 

Alke Stachler

eines tages wachst du auf und spürst, deine seele hat den körper einer qualle, eines fragilen feenwesens ohne augen oder hände, mit freigelegtem bläulichem innern. und deutlicher als dir lieb ist fühlst du                       ihre fadenartigen gliedmaßen sich im nichts abstoßen, sich kräuseln wie um etwas zuzunähen, das wasser, dich, sie ist fast ohne konsistenz, ein pures, von allem abgeschältes pulsieren, ein schlag ohne herz. ihre durchsichtigkeit lässt dich zusammenzucken, die deutlichkeit ihres absolut fehlenden gewichts


 

Lisa Viktoria Niederberger

Da, wo der Kopf anfängt und der Hals aufhört

Ich zünde mir die gefühlte hundertste Zigarette des Abends an und blicke wieder zu Katinka. Schon seit mindestens drei Jahren sehe ich ihr mehrmals die Woche beim Arbeiten zu, habe sie nie wirklich beachtet, sie nicht als schön oder aufregend wahrgenommen, bis vor Kurzem. Plötzlich fällt mir auf, wie sie es schafft, Anmut und Eleganz, mit einem Hauch von Keckheit in die einfachsten Handlungen zu legen. Auch jetzt muss ich sie anschauen, muss bewundern, wie sie mit ihren kleinen Fingern das Bierglas nimmt, es locker von der linken in die rechte Hand wirft, es mit der Gläserdusche kurz mit Wasser ausspült, den Kerl der es bestellt hat leicht anlächelt, und dann unter den Zapfhahn hält. Katinka legt dabei immer den Kopf leicht schief, so als würde sie dann besser sehen können, wie das Bier ins Glas sprudelt. Manchmal beißt sie sich dabei auf die Unterlippe, das Gesicht angespannt in purer Konzentration. Mit den Hüften wackelt sie im Takt zur Musik. Nicht kokett, nicht aufdringlich, mehr so, als würde sie es genießen, als würde sie Spaß haben, so als würde sie gerne tanzen und müsste sich zusammenreißen, es nicht zu tun. Und gerade diese Zurückhaltung in der Bewegung macht sie so erotisch.

Katinkas Haare sind braun und lockig, sie hängen ihr bis über die Schultern. Anhand von Katinkas Locken kann man feststellen, ob sie einen stressigen Arbeitsabend hat, oder nicht. Geht es locker und gemütlich zu, dann sind es eher Wellen. Ist der Laden brechend voll, beginnt sie zu schwitzen und ihre Locken ziehen sich zusammen, werden eine richtige Krause.

Vor drei Wochen habe ich zum ersten Mal darüber nachgedacht, wie Katinka wohl nackt aussieht, welche Unterwäsche sie wohl trägt unter dieser langweiligen und unförmigen Bluse mit dem aufgestickten Lokallogo, die sie immer anhat, wenn ich sie sehe. Ich bin im Bett gelegen, und der Gedanke war da. Jana ist auf meinem Oberkörper gelegen, hat geschlafen, mit dem Arm um mich, ich hellwach und mit den Gedanken wo anderes, habe mir gedacht, dass das falsch ist, dass ich das nicht kann, dass ich das nicht darf, man das nicht tut. Und trotzdem bin ich ins Bad, hab mich eingeschlossen und mit der Hand in meiner Boxershort überlegt, welche Farbe wohl Katinkas Brustwarzen haben und ob sie diese wohl lieber sanft geleckt oder fest gebissen bekommt. Hab dann die klebrige Boxershort beschämt die Waschmaschine gestopft, in den Spiegel gesehen und hätte mir gerne eine reingehauen, weil ich das doch nicht tu, weil ich nicht der Typ bin, der sich nachts heimlich im Bad einen runter holt, dabei an eine Fremde denkt, wo er doch eine Frau im Bett liegen hat, die er liebt und begehrt. Und wie ich mich dann zurückgelegt habe, extra nahe an Jana, zu ihr unter die Decke statt unter meine eigene, hab ich beschlossen, ich geh da nie wieder hin, ich such mir ein anderes Lokal, ich kann das nicht.

Ich bin betrunken gewesen, hab mich an der Bar kurz ausgeruht, den Kopf auf den Tresen gelegt und das kühle Holz an der Wange gespürt. Und dann plötzlich, Katinkas Hand. In meinen Haaren, an meiner Kopfhaut, da hinten wo der Kopf anfängt und der Hals aufhört. Eine unschuldige Berührung, ein kurzer Griff, nur mit den Fingerkuppen. Und trotzdem hab ich sie sofort überall gespürt, den Kopf hochgerissen, sie angestarrt. Sie hat nichts gesagt, ich hab nichts gesagt. Aber ihre Mundwinkel haben sich leicht nach oben gezogen, sie hat gegrinst und mich nicht nur angesehen, sondern in mich hinein.

Seit drei Wochen drehen sich meine Gedanken im Kreis. Ich wache auf und denke an Katinka, drehe das Radio an, höre ein Lied und frage mich, ob Katinka dazu wohl auch so sanft mit dem Arsch wackeln würde. Hab mir dutzende Male vorgenommen, sie auszublenden, mich lieber zu fragen, warum das denn auf einmal so ist. Dass mir diese Frau jahrelang doch egal gewesen ist, niemand mehr für mich gewesen ist, als die Barkeeperin mit dem lustigen Namen, die mir Samstagabend mein Bier hingestellt hat und mit der ich hin und wieder ein paar Sätze gewechselt habe, wenn meine Kumpels sich verspätet haben. Ob das nicht eigentlich mehr über mich aussagt, als über sie, oder über Jana, mich und Jana, ob bei uns was anders ist auf einmal, es fällt mir nichts ein. Aber mein Hinterkopf beginnt zu Kribbeln.

Seit drei Wochen nehme ich mir vor, ich geh da nicht mehr hin. Und trotzdem sitze ich wieder hier, da an Katinkas Bar, da wo ich immer sitze.

Katinka trägt einen kleinen Aluminiumkübel voller Eiswürfel an mir vorbei, ich rieche schwach ihr Parfum. Sie singt leise mit.

Und da sind wieder diese Bilder, die nicht sein sollten: Ich sehe Katinka neben mir auf dem Beifahrersitz, das Fenster ist offen, ihre Locken zerzaust vom Fahrtwind, sie hat ihre Beine nach draußen gesteckt. Ihre Zehen sind winzig, die Nägel rot lackiert, die Füßen liegen auf dem Seitenspiegel. Ich fahre über kroatische Landstraßen, vorbei an halbfertigen Häusern, Olivenhainen und Ziegenherden. Aus dem Boxen dröhnt, wie hier im Lokal, Creedence Cleerwater Revival. Und im Gegensatz zur echten Katinka, die eigentlich gar nicht richtig singt, sondern nur den Text mitflüstert, während sie gerade einer Gruppe Jungs in Superheldenkostümen Jägermeister über die Bar reicht, singt die Fantasie-Katinka lautstark, sieht mich dabei von der Seite an, lächelt und legt mir die Hand auf den Oberschenkel. Fantasie-Katinka und ich fahren von der Hauptstraße ab, in einen kleinen Feldweg hinein, wo wir uns unter einem Feigenbaum in die Wiese legen. Wir würden dort bis zur Nacht liegen bleiben, irgendein lauwarmes einheimisches Bier trinken. Ich würde zu ihr sagen, schau mal, Katinka, die Milchstraße, man sieht sie hier besonders gut, weil es viel dunkler ist, als bei uns zuhaue und ihr dann meinen Schwanz in den Mund stecken.

Mir wird der Mund trocken, als ich mein Bierglas hebe, bin ich ganz verwundert, dass es leer ist. Das ist neu, das passiert uns normalerweise nie, mir und Katinka, weil sie das eigentlich weiß, dass sie mir so lange ungefragt ein neues hinstellen kann, bis ich sage, du, danke, es reicht für heute. Sie sieht auch nicht in meine Richtung, trinkt gerade Schnaps mit zwei Mädels mit denen sie sich den ganzen Abend schon immer wieder kurz unterhalten hat. Sie hat mich auch noch nicht gefragt, wie es mir geht, wo meine Jungs bleiben, so wie sie es sonst immer tut, wenn ich alleine bin. Wie sie es letztes Wochenende noch getan hat, wo sie mir so einiges erzählt hat, von einer Vernissage, bei der sie eben gewesen ist. Davon, dass da ein Fotograf jahrelang durch Österreich gefahren ist, nur um Morgens an der Tankstelle Schichtarbeiter beim Biertrinken und Frühstücken zu fotografieren. Wie sie das begeistert hat, was das für eine schöne Milieustudie gewesen ist, und dass man sich das eben einmal vergegenwärtigen muss, dass das auch nur Menschen sind, nur eben mit einem ganz anderen Lebensrhythmus. Dass das nur, weil jemand bei Tagesanbruch in einer Tankstelle Bier sauft, nicht gleicht heißt, der ist Alkoholiker und hat kein Zuhause und keine Zukunft.

Letztes Wochenende haben Katinka und ich so lange Sambuca getrunken, bis sie gesagt hat, sie kann nicht mehr, sonst fängt sie an, sich zu verrechnen. Ich habe sie mit Kaffeebohnen beworfen, sie hat gelacht, gesagt, wenn ich das noch einmal tu, dann holt sie den Türsteher und lässt mich raus werfen und wir haben beide gelacht. Heute glaube ich, dass sie mich bewusst ignoriert.

Ich frage mich, ob Katinka manchmal in ihrem Badezimmer steht, ihre Fingerkuppen betrachtet und überlegt, warum sie einem fremden Mann den Kopf gekrault hat. Ob sie sich dann auch zu jemand anderem ins Bett legt, einem Kerl, oder einer Frau vielleicht, irgendwie würde das ja zu Katinka passen, dass sie Frauen mag.

Ob sie auch ein schlechtes Gewissen haben muss.

Ob sie es vielleicht schon vergessen hat.

Ob sie das bei jedem macht, der an ihrer Bar einschläft.

Und auf einmal steht sie da, sieht mich an, stellt mir ein frisches Bier hin, ich habe sie sogar beobachtet, wie sie es gezapft hat, aber nicht damit gerechnet, dass es für mich ist.

„ Alles in Ordnung bei dir?“, fragt mich Katinka.

Es ist wohl die dümmste, die oberflächlichste Frage der Welt. Wahrscheinlich fragt sie das hundert Gäste pro Abend, hat es auch mich schon hundert Mal gefragt. Aber da ist eine Tiefe, eine Ernsthaftigkeit in dieser Frage, da ist etwas in ihrem Blick, von dem ich weiß, das ist neu. Und als ich wohl das zweit-dümmste sage, was ein Mensch sagen kann, dass es mir noch nie besser gegangen ist, da meine ich das Ernst.

Ich sehe sie an, und mir wird schlecht, mir wird schwindlig und ich weiß nicht mehr, wohin mit dem ganzen Speichel, der da auf einmal ist, in meinem Mund. Katinka sieht mich einfach nur an, sagt nichts, aber ihr Blick ist so arg, ich spüre ihn überall, so dass ich froh bin, dass sie nichts sagt, weil sie mich so überwältigt, wenn sie jetzt noch etwas sagen würde, ich könnte nicht mehr.

Ich müsste aufspringen, sie an den Haaren packen, ihr Gesicht an meines ziehen und sie küssen, sie nehmen, am Besten sofort hier, vor all den Leuten.

Und auf einmal ist da Jana, ich sehe sie vor mir, wie sie im Bett liegt, in ihrer rosarot-karierten Pyjamahose. Sie wird noch munter sein, sie nimmt sich immer vor auf mich zu warten, wenn ich ohne sie unterwegs bin. Sie wird Harry Potter lesen, weil sie immer Harry Potter liest, wenn ich Bier trinke. Ich hab sie nie gefragt, warum sie das tut. Auch nicht, warum sie immer auf mich wartet, warum sie mich zuhause immer so freudig aufnimmt, wenn ich unterwegs gewesen bin. Warum es sie nicht stört, wenn ich mich stinkend und betrunken zu ihr ins Bett lege, sondern mich einfach in den Arm nimmt, mir manchmal auch sogar erlaubt, mit ihr zu schlafen. Ich hab es nie verstanden, aber mich immer darüber gefreut.

Und wieder wird mir schlecht, wieder wird mir schwindlig, wieder weiß ich nicht, wohin, mit dem ganzen Speichel, der da auf einmal in meinem Mund ist. Als ich ihn schlucke, ist da dieser Kloß im Hals, den ich sonst nicht habe, den ich nie habe, den ich nicht einmal gehabt habe, als wir letztes Jahr meinen Großvater eingeäschert haben.

Ich kann Katinka nicht mehr ansehen, bin in meiner Jacke drin, lege fünfzig Euro auf die Bar und flüchte nach draußen, wo es windig ist, wo es herbstelt. Wo die Sonne schon aufgeht und wo ich mich an der Anzeigetafel vom Bus festhalten muss, weil ich auf einmal glaube, dass ich nicht mehr stehen kann. Ich will zurück, will noch drei Bier, will warten, die eine Stunde noch, bis Sperrstunde, will mich wieder an die Bar legen, will so tun, als würde ich schlafen. Auf Katinkas Fingerkuppen hoffen, die mich da angreifen, wo der Kopf anfängt und der Hals aufhört.

Aber ich drehe um, und gehe. In Richtung Jana, Richtung zuhause. Richtung Vernunft.

An der Tankstelle sage ich dem Türken, der die Frühschicht schiebt, dass ich Mayonnaise zu meinem Leberkäse möchte. Er sieht mich angeekelt an und so fühle ich mich auch: ekelig. Neben mir sitzt ein dicker, bärtiger LKW-Fahrer, isst ein Schnitzelsemmerl, trinkt dazu Bier. Die Flasche hat er in ein Papiersackerl gesteckt, weil, in der Tankstelle darf man keinen Alkohol trinken. Er kaut unglaublich laut, hat Brösel im Bart und starrt auf das Nacktfoto, das immer auf Seite 7 der Tageszeitung abgebildet ist. Er grunzt, und sagt, an niemand bestimmten gerichtet, dass er die schon auch nehmen würde, dass die es sicher hart und dreckig braucht. Dann rülpst er und fragt nach dem Kloschlüssel.

Der Fotograf, von dem Katinka erzählt hat, hat sicher Leute wie diesen Kerl fotografiert. Und Katinka wird in der kleinen Galerie gestanden sein, wahrscheinlich mit den beiden Mädels, die heute bei ihr an der Bar gesessen sind, sie werden billigen Rotwein getrunken haben, von Foto zu Foto gewandert sein, und sie betrachtet haben, diese Leute, die morgens an Tankstellen rumhängen. Die Nachtarbeiter, die Taxifahrer, die Straßenzeitungsverkäufer, die, die laut Katinka eh nur ganz normale Menschen sind.   Aber eines hat sie vergessen, dass das eben doch nicht alles ist. Dass es schon noch eine andere Art von Menschen hier gibt. Die Leute, die nicht wissen, was passiert mit ihnen, wo sie da auf einmal sind. Wo sie hin sollen. So wie ich. Die nirgends wo hin können und deswegen festkleben, hier bei den Bier in Papiersackerln und den rumänischen Aufbackbrötchen. Als ich meinen Kopf an die weiße Plastikbar legen will, weil ich mir einrede, dass ich da vielleicht besser nachdenken kann, bewirft mich der Tankwart mit irgendetwas, es ist ein ekliger, nasser und nach Essig stinkender Fetzen und er landet genau in meinem Nacken. Dann kommt er zu mir, stützt sich mit den Ellenbogen an der Bar ab, nennt mich Bursche, wofür ich ihm aus Prinzip gerne gleich eine panieren würde und sagt mir, dass ich nach Hause gehen soll. Dass ich nicht nach Hause kann, dass ich da nicht hin will, sage ich und er macht so eine wegwerfende Geste mit der Hand und murmelt trocken, dass ich dann eben wo anders hingehen soll. Ich schüttele nur den Kopf, sage, dass wo anders hin zwar schön wäre, aber unklug.

„Es ist irgendwas mit Frauen, oder? Es ist immer wegen den Frauen.“

„Ja. Ich glaube, es gibt zwei davon.“

„Hast du Kinder?“

„Nein.“

„So lang du keine Kinder hast, ist alles noch ok. Da kannst du dich noch umentscheiden. Wenn die mal da sind, dann ist alles im Arsch!“

„Ja, aber das ist doch scheiße so!“

„Bursche, egal, wie man es macht – scheiße ist es immer!“

Ich schließe Janas Wohnung auf, bemühe mich, leise zu sein. Überall brennt Licht, aber sie kommt mir nicht, wie sonst oft, entgegen, um mich zu küssen, um mich zu fragen, ob ich einen schönen Abend hatte. Im Schlafzimmer finde ich sie, genauso, wie ich es erwartet habe. In dieser scheußlichen, aber trotzdem irgendwie niedlichen Kinderpyjamahose, den vierten Band von Harry Potter auf der Brust liegend, schlafend. Ich nehme ihr das Buch aus der Hand, streiche ihr die Haare aus dem Gesicht, drehe die Nachttischlampe ab, ziehe mich aus und kuschle mich dazu. Jana schmiegt sich schlaftrunken an mich, streichelt meinen Rücken. Ihre Hand wandert nach oben, berührt mich da, wo es seit Wochen schon prickelt. Sanft schiebe ich sie von mir, ich will nicht dass sie mich so sieht. Will nicht, dass sie aufwacht, dass sie merkt, dass etwas anders ist, bei mir.

Im Bad höre ich plötzlich irgendwo ganz hinten in meinem Schädel Katinkas Stimme. Katinka die leise wieder Creedence Cleerwater Revival singt, sie singt vom Weltuntergang, vom aufgehenden Mond, sie singt davon, dass es besser gewesen wäre, heute nicht nach draußen zu gehen. Kluge Katinka.

Und erst als es an der Tür klopft, realisiere ich, dass ich meinen Schwanz in der Hand habe, an Katinka denke, die nackt auf mir liegt, an einer Zigarette zieht, sie mir dann in den Mund steckt, um besser singen zu können.

Ich höre draußen irgendein Geräusch, halte inne in der Bewegung.

„ Alles in Ordnung bei dir?“, fragt mich Jana.

Und als ich leise durch die Tür durch flüstere, dass es mir noch nie schlechter gegangen ist, da meine ich das Ernst.


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Franziska Baur

Wasser, Fluss, Leben

Ist das Leben wie ein Fluss? Der einen mit seinen Strömungen nach oben und Mal nach unten reißt? Der einen in schnellen Wellen trägt oder gemächlich, langsam mäandernd mitnimmt auf seinem Weg? Und ein anderes Mal fast zum Erliegen zu kommen scheint? Einmal reißen einen seine Wellen und Stromschnellen mit, lassen einen auf der sich kräuselnden Gischt tanzen. Oder sie wirbeln einen so durch und durcheinander, dass oben und unten nicht mehr zu unterscheiden ist. Weil das Wasser, das Leben, einen mit sich reißt wie es ihm gefällt. Der eigene Wille, oft machtlos.

Aber egal wie schnell oder langsam, wie turbulent oder gemächlich, der Fluss, das Wasser bahnt sich seinen Weg, fließt, zieht weiter – lässt sich nicht beengen, kommt nie ins vollständige Ruhen. Und auch wenn es manchmal so scheint, hört die Bewegung nie auf.

Und wie heilsam und bedrohlich zugleich doch diese Vorstellung ist. Heilsam, weil es Gewissheit bringt, dass kein Schmerz und kein Leid, kein Scheitern, keine Enttäuschung für ewig verweilt oder andauert. Einen von innen austrocknet oder verdorren lässt. Nein. Wie das Wasser fließt, sich fortbewegt und sich entfernt – verflüchtigt sich auch das Auszehrende, verändert sich, verliert seine Vehemenz.

Vorausgesetzt man lässt es ziehen, friert es nicht ein. Nur in der Erstarrung liegt das Unveränderliche, der Stillstand. Nur dann ist der Fluss unterbrochen. Gefangen, gefroren verliert er seine Kraft und Energie, die seine Stärke ausmacht.

Diese unveränderbare Gewissheit, bringt jedoch auch etwas bedrohlich-trauriges mit sich. Denn es zeigt, dass keine Freude und kein Glück zu halten ist. Auch sie fließen und entrinnen – sind nicht einzufangen, nicht festzuhalten – brauchen die stete Erneuerung. Sind nie gewiss – nur für den Moment.

Auf einer Brücke darüber stehend fließt das Wasser unter einem hindurch, die Zeit, Erlebnisse und Geschehnisse nimmt es mit. Oder man kann sie ihm mitgeben – sie mit dem Wasser auf eine Reise schicken, oder gar gänzlich verabschieden, loslassen, freigeben, von sich lösen. So entsteht Freiraum für Neues. Etwas, das sich bewegt, agil verändert, neue Formen zulässt und etwas erschafft. Ein Tanzen, Springen, Aufbäumen und sich Einfügen in das Wasser, das den Fluss des Lebens bestimmt.