16 | Gloria Ballhause

Liebesroboter

Am Tag, als es endlich den ersten Schnee geben sollte, saß Theo im Wartezimmer seines Hausarztes. Husten- und Niesanfälle hatten ihn in der Nacht wachgehalten, vor Sonnenaufgang waren auch noch enorme Kopfschmerzen dazu gekommen. Ein Verdacht wühlte in seinem Kopf: Meningitis. Er hatte die Symptome gegoogelt und war nach einem kargen Frühstück – Kaffee schwarz und eine halbe Zigarette – in die Praxis gefahren.

Theo war der erste Patient im Wartezimmer. Kurz nach ihm betraten zwei Frauen den Raum. Sie setzten sich an die Wand gegenüber und schnatterten, ohne ihn zu beachten oder auch nur zu grüßen. Theo regte solch großstädtische Unhöflichkeit auf, aber so waren eben die Zeiten. Er beließ es bei einem Stirnrunzeln und wandte sich wieder dem Geo-Heft auf seinen Knien zu. Ein Artikel über Nordfriesland zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Nach einer Weile verschwammen die Zeilen vor seinen Augen, er schloss sie für einen Moment. Plötzlich riss ihn ein Satz ins Wartezimmer zurück.

„Schalten sich Roboter, wenn sie Langeweile haben, einfach ab? Wie läuft das bei euch…?“, hatte eine der Frauen gefragt.

Da er die Augen geschlossen hatte, wusste Theo nun nicht, welche der Frauen es gewesen war. Er musterte sie. Die beiden sahen ganz gewöhnlich aus. Sie waren ungefähr in seinem Alter, knapp sechzig. Die eine war groß und schlank, trug ihr blondes Haar zu einer Helmfrisur gefönt und schien Pastelltöne zu bevorzugen. Die andere war eher rundlich, hatte kurzes graues Haar und einen schönen Mund, von dem Theo ausging, dass er gern naschte. Die Augen der Kurzhaarigen erschienen ihm sehr lebhaft, ziemlich blau, nicht so eingetrübt, wie ihm oft seine eigenen vorkamen. War sie etwa diejenige, bei der ein Roboter zu Hause auf dem Sofa saß?

„Naja, Robotern ist nie langweilig, weil sie gar nicht so viele Erwartungen an ihre Freizeit haben“, sagte die Kurzhaarige.

Sehr richtig, pflichtete Theo ihr innerlich bei. Es war grundsätzlich ein Denkfehler, Maschinen menschliches Verhalten anzudichten. Das hatte ihn schon immer geärgert. All diese Filme über Roboter, die einsam und auf der Suche nach Gefährten waren. Das war absoluter Humbug. Wenn jemand einsam war, dann war es der Mensch selbst, der solche blödsinnigen Geschichten erfand, um den Umgang mit Maschinen ertragen zu können.

„Kann er auch weinen?“, fragte die Frau in Pastelltönen hinterher. Also tatsächlich: Die Kurzhaarige hatte einen Roboter zu Hause und die Pastell-Frau hatte immer noch nicht verstanden, dass Maschinen keine Menschen waren.

„Er ist programmiert, an den richtigen Stellen zu weinen, wenn ein trauriger Film im Fernsehen kommt oder sowas, aber Gefühle hat er ja nicht wirklich“, sagte die Kurzhaarige.

Theo war froh, dass sie in der Lage war, Mensch und Maschine auseinanderzuhalten. Allerdings: War es nicht traurig, dass die Kurzhaarige, statt eines richtigen Menschen, einen Roboter zu Hause hatte? Eine Frau, deren Augen leuchteten und die obendrein noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Sie war doch sicher beliebt und viel unterwegs und mit vielen Kontakten gesegnet. Auf welchem Weg war die Menschheit, wenn selbst jemand wie sie einen Roboter brauchte? Und warum wusste Theo nichts von Robotern für alleinstehende ältere Frauen? Er recherchierte viel und las alle wichtigen Zeitungen online. Wenn es so etwas schon zu kaufen gab, blieb es doch nicht geheim. Und warum hatte er noch nichts von weiblichen Modellen für zu Hause gehört? Es war doch unwahrscheinlich, dass es nur männliche Modelle gab. Schließlich waren Männer – und diesen Fakt konnte man nicht ignorieren – die Herrscher der Maschinen. Sie entwickelten und entwarfen zum überwiegenden Teil, was gebaut wurde. Theos Herz polterte in seiner Brust. Er verhedderte sich in einem Husten- und Niesanfall und nahm dankend ein Taschentuch von der Kurzhaarigen an. Nach ein paar Atemzügen gewann er seine Fassung wieder. Er legte das Geo-Heft zur Seite. Als Theo Augenkontakt mit der Kurzhaarigen hergestellt hatte und gerade seinen Mund für eine Frage öffnete, kicherte die Pastell-Frau dazwischen.

„Und wie ist das mit… ich meine, macht er alles, was du willst… na, du weißt schon?“. Die Kurzhaarige lief rot an und fiel ins Kichern ein. Verstohlen sah sie zu Theo, dem seine Frage schlagartig auf der Zunge vertrocknete. Er schloss den Mund und schluckte. Er war nicht ganz sicher, ob er ihre Antwort hören wollte.

„Herr Schliema, bitte in Behandlungszimmer zwei“, rief der Arzt über den Flur in das Wartezimmer. Theo erhob sich.

Im Behandlungszimmer saß einer dieser Jungdoktoren, die an Patienten wie ihm praktische Erfahrungen sammelten, denn Theos Hausarzt hatte seine Praxis als Lehrpraxis umfunktioniert. Das hieß, Theo bekam den richtigen Arzt eigentlich gar nicht mehr zu Gesicht. Jedes Mal, wenn er wegen seines Blutdrucks oder einer Erkältung in die Praxis kam, behandelte ihn eine neue junge Ärztin oder ein junger Arzt. Der Arzt, blond und mit einem derartigen Milchgesicht ausgestattet, dass Theo schon nach dem Ausweis fragen wollte, stellte sich als Herr Hoffmann vor.

„Herr Schliema, wo drückt denn der Schuh?“, fragt er.

Theo fühlte einen Stich in der Brust. Noch so jung und schon voller Floskeln, dachte er. Ihn überfiel eine Müdigkeit, die nicht nur von einer durchwachten Nacht kommen konnte. Es war eine Tonne Müdigkeit, die auf seine Lider drückte und auch auf seine Schultern.

Waren Männer wie er so einfach ersetzbar durch Roboter? Was wusste denn dieses Milchgesicht von Doktor überhaupt? Er behandelte Theo wie einen Idioten, bloß weil er aus seiner Sicht die Altersgrenze, in der man noch für zurechnungsfähig gehalten wird, überschritten hatte. Dabei war er erst sechzig. Er war noch zu gebrauchen, auch als Mann!

„Die Schuhe drücken nicht. Ich habe eine Meningitis!“, sagte Schliema.

„Das wollen wir uns mal anschauen“, sagte der Doktor sanft, was Theo noch mehr in Rage versetzte.

Er erläuterte in einem, wie ihm selbst auffiel, etwas herrischen Ton seine Symptome – Niesanfälle, Rotzbildung, Hustenfrequenz, Stärke und Art der Kopfschmerzen –, das hatte der Doktor nun von seiner Floskelattitüde. Theo übertrieb ein bisschen, auch weil der junge Doktor bei seinen Untersuchungen – Brust abhorchen, Nebenhöhlen abklopfen, Rachen inspizieren – immer mehr die Stirn auf Ärzteart in Falten legte, was er wahrscheinlich in einer Lerngruppe für angehende Hausärzte einmal die Woche geübt hatte. Theo ließ sich davon nicht einschüchtern. Er beendete seinen Vortrag mit der Diagnose Verdacht auf Meningitis und fügte die Frage an, ob er über die Feiertage ins Krankenhaus müsse.

Der junge Doktor schwieg einen Moment, entspannte seine Stirn und lächelte ihn triumphierend an.

„Herr Schliema, das müssen sie nicht, Sie haben einen stinknormalen grippalen Infekt“, sagte er.

Theo brauchte einen Moment, bevor er die Worte richtig verarbeitet hatte.

„Aber das kann gar nicht sein, die Symptome sind doch eindeutig“, wandte er ein, wurde aber sofort wieder unterbrochen.

„Sie können sich freuen“, entgegnete der Arzt, nun seinerseits etwas herrisch. Offenbar war Theo nicht der erste, der eine Diagnose des Milchgesichtes infrage gestellt hatte.

„Die Symptome passen nicht zu einer Meningitis“, sagte der Arzt weiter und setzte zu einem Vortrag über Meningitis an.

Theo sank in den Stuhl. Er war sich so sicher gewesen. Alles hatte so gut zusammengepasst und nun überführte man ihn quasi der Hypochondrie.

Und war er wirklich überhaupt noch ein Mann? Es stimmte ja gar nicht, dass er ohne Hilfsmittel mit einer Frau wie der Kurzhaarigen… Wenn er seine Erektionen ansah, dann war das doch ein Trauerspiel. In den letzten zwei Jahren hatte er es drei Mal mit einer Bekannten versucht, bei der er sich nicht getraut hatte, zu sagen, dass er ihr süßliches Parfüm abscheulich fand. Nachdem er zwei Mal gescheitert war, hatte er beim dritten Versuch eine dieser Pillen, die er ihm Internet bestellt hatte, eingenommen, was ihm zwar eine Erektion bescherte, aber auch Übelkeit und Schwindel, sodass ihm nichts anderes übriggeblieben war, als auf dem Rücken zu liegen und zu warten, bis seine Übelkeit abgeklungen war, mit ihr leider auch die ersehnte Erektion. Die Scham über dieses Ereignis hatte ihm verboten, die Bekannte noch einmal zu fragen und seine Hemmschwelle, in dieser Richtung aktiv zu werden, war enorm gestiegen. Vielleicht sollte er es auch mal mit einem Roboter probieren, beziehungsweise mit einem weiblichen Modell. Mit ihr könnte er üben, und wenn die Richtige dann käme, wäre er vorbereitet auf solch eine Situation. Es konnte unmöglich sein, dass es nur Liebesroboter für ältere Damen gab. Er musste das recherchieren. Theo unterbrach den Arzt.

 

Dicke Flocken sanken herab und ließen sich auf den Wollmützen der Fußgänger nieder. Theo lief, ja rannte fast über den Bürgersteig in Richtung seines Wagens. Als er um eine Hausecke bog, rempelte er jemanden an. Er entschuldigte sich hastig, stockte und blieb dann stehen. Es war die Kurzhaarige. Unter der roten Wollmütze hätte er sie fast nicht erkannt.

Theo sah in ihr Gesicht. Sie hat Augen wie Fenster, dachte er.

„Ach, Sie sind es… ich wollte Sie fragen...“, stammelte er. Sie nickte als wüsste sie, was er fragen wollte. Es schien ihm fast so, als wollte sie seine Worte herbeinicken. Strahlte sie nicht sogar vor Erwartung?

Auf seiner Zunge tat sich jedoch nichts. Die Worte kräuselten sich in seiner Kehle, strebten vor und zurück. Er konnte sie nicht nach einem, beziehungsweise nach ihrem Liebesroboter fragen. Das war zu seltsam und irgendwie auch eine persönliche Sache.

„Ach, nichts“, sagte er.

Das Strahlen erlosch. Vor ihre Augen schoben sich unsichtbare Läden. Sie macht zu, dachte er. So etwas wäre ihm früher nicht passiert. Er war einfach nicht auf der Höhe. Vielleicht würde er es nie mehr sein. Theo schüttelte einen Hustenanfall. Er zog den Kragen seines Mantels enger im den Hals.

„Sie sollten nach Hause gehen und sich ausruhen, Sie sehen müde aus“, sagte die Kurzhaarige.

„Das ist die Erkältung, ich habe kaum geschlafen“, sagte er außer Atem. Er wandte sich mit einem Alsodann von ihr ab.

„Sie wollten fragen, ob ich einen Roboter habe“, rief ihm die Kurzhaarige in den Rücken.

Theo drehte sich um. Die Stille der Flocken landete auf seiner Stirn, auf seiner Nase und seinen Lippen. Die Flocken schmolzen sofort.

„Verzeihen Sie uns, wir sind manchmal ein bisschen böse, Marianne und ich, und spielen Szenen aus unserer Kabarett-Gruppe“, sagte die Kurzhaarige. Ihr Lächeln kam ihm traurig vor. Eine Last fiel von ihm ab, die nicht von der Erkältung kam und auch nicht von der durchwachten Nacht.

„Kann ich Sie ein Stück begleiten? Ich erkläre es Ihnen“, sagte die Kurzhaarige.

Theo und die Kurzhaarige, die Iris hieß, gingen nebeneinander her. Er hörte ihr zu, nieste und hustete in ihre Worte hinein. Sein Kopf fühlte sich heiß an. Morgen würde er wahrscheinlich nicht mal mehr aus dem Bett kommen. Ab und zu lachte er. Sie auch. Das Lachen war warm und kam aus tiefster Kehle.

 

Gloria Ballhause

 

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15 | David Hassbach

Weihnachten im Schlachthaus

Am Heiligabend machte ich immer eine Doppelschicht im Schlachthaus.
Ich wollte nicht wie die ganzen Arschlöcher sein,
die das ganze Jahr über ihre Frauen schlagen
und dann für einen Abend ein nettes Gesicht aufsetzen,
ihren Bälgern etwas Liebloses schenken
und sich anschließend mit Punsch besaufen.
Außerdem wartete zu Hause niemand auf mich.
Mein Vorarbeiter Jack, ein derber Mann
mit Bratpfannenhänden und einem Kopf so groß
wie der eines Ochsen, trank immer aus seiner Whiskeyflasche,
sprach dann vom heiligen Geist und lachte dreckig,
wenn sich wieder jemand einen Finger abschnitt.
Dieser Betrieb hatte fürwahr mehr Krüppel produziert,
als so manches Schwangerschaftsmedikament.
Die Zeit verging langsam und gegen acht Uhr
spürte auch ich den Whiskey schon in den müden Knochen.
Doch plötzlich lag ein Schimmer in der Luft,
wie wenn sich das schummrige Kneipenlicht
im Pailletten-Kleid einer billigen Nutte reflektiert.
Einem der frischen Kalbskadaver wuchsen auf einmal Flügel
und dieser Kalbsengel stieg in die Luft empor
und verkündete die Frohe Botschaft.
Unter den Arbeitern wurde es still.
Doch dann schlug Jack dem himmlischen Vieh einen Haken durch die Ferse und zog es
schreiend hinauf zu den anderen Kadavern,
bis es verstummte.
Während ich noch einen Schluck Whiskey nahm, dachte ich:
An diesem gottlosen Ort ist einfach kein Platz für Weihnachten.

 

David Hassbach

 

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14 | Sabine Schönfellner

Fahrtenbuch

Am Rückfenster sitzt ein kleines Mädchen in einem grünen Overall und reitet die Straßenbahn um die Kurven, es ruft: „Zwei noch, dann müssen wir aussteigen!“
An der Haltestelle warten viele, mehrmals wird eine Betriebsstörung durchgesagt, als dann doch eine Straßenbahn einfährt, drängen sich zwei junge Männer an einem Rollstuhlfahrer vorbei zur Tür.
Die alte Frau fragt laut, ob sie sich setzen dürfe, wie sie es jeden Morgen tut, der Mann im Anzug zuckt zusammen und steht unter gemurmelten Entschuldigungen auf.
Um einen Sitzplatz angeboten zu bekommen, sollte man schwer atmen, verzweifelt aussehen, am besten älter sein, idealerweise weiblich; ein Buch unter dem Arm und müde Augen reichen dafür nicht aus.
Unter dem Sitz ist Kies eingelagert, an der Endhaltestelle mischt ihn die Straßenbahnfahrerin durch, dann klappt sie den Sitz wieder herunter, ohne dass jemand fragt wozu, sollen damit die Schienen gestreut werden im Winter?
Der junge Mann mit den wirren Haaren, jeden Donnerstag fährt er hier lang, sitzt am Fenster und trommelt gegen das Fensterbrett, er spricht nicht, sondern summt nur, der Platz neben ihm bleibt wieder frei.
Ein Stoß in den Rücken, keine Entschuldigung, nur die Feststellung: „Überall müssens telefonieren“, dann ist die dicke Frau zur Tür draußen, die OP ist gut ausgegangen, danke der Nachfrage.
Es riecht, nach Schweiß, nicht nach Deo, nach Turnhalle, nach schwitzenden Jugendlichen, die einander Brudi nennen und von ihrer Fitnessroutine erzählen, den Mädels hinten im Wagon zurufen, sie sollen ja nicht nach vorne kommen, die Mädels kichern und tragen alle keine Jacken, obwohl November ist, eine Station früher aussteigen als sonst.
Ein kleiner Bub in der Reihe dahinter, der laut schreit, etwas fallen lässt, essen will, singen will, noch lauter schreit, als er sich wieder hinsetzen soll, seine Mutter hat ihn wohl nicht im Griff, beim Umdrehen merken, es kann nicht die Mutter sein, die ältere Schwester hat ihn aus dem Kindergarten abgeholt und sieht sich entschuldigend um, plötzlich Mitleid, mit einer Mutter hätte man das nicht?
Dann wie jedes Jahr dasselbe Spiel, witterungsbedingte Verzögerungen, als ob niemand erwartet hätte, dass es schneien würde, als ob ein paar Flocken und ein halber Zentimeter Matsch schon alles aufhalten können.
Dichtere Flocken, die die Schienen und Straßen einpacken und alles dämpfen, die Autos, die Busse, die Ampeln, die anderen Fußgänger, die mit gesenkten Köpfen vorbeirutschen.
An der nächsten Haltestelle immer noch keine Zeit auf der Anzeige, eine Entschuldigung läuft gelb leuchtend durch, in Dauerschleife, Schneeflockenpixel dazwischen.
Kein Buch dabei, keine Sitzplätze mehr, heute reitet niemand die alten Straßenbahnen. Die Schuhspuren zerrinnen in Matsch.

 

Sabine Schönfellner

 

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13 | Maya Olah

Die Hände aller Männer

Meistens sitzen die Menschen alleine im Auto. Manchmal sind sie auch zu zweit, dann sehe ich nur den, der nicht fährt. Im Wagen vorhin ist ein Hund auf dem Beifahrersitz gesessen. Er war der einzige, der neben sich zum Fenster hinausgeschaut hat. Ich glaube, er hat mich gesehen, wie ich hinter der Leitplanke stehe. Für einen Moment nur hat es so ausgesehen, als würde der Wagen stillstehen, mitten auf der Autobahn, bei über hundert Sachen. Der Hund hatte die Zunge draussen. Dann hat das Auto beschleunigt, wie ein Pfeil ist es vorbeigezischt.

Hinter mir steht der Tankstellenshop, ein grauer Klotz, der auf dem Kopf gelbrote Neonröhren trägt. Rundherum hat es nur Strassenwüste und Gestrüpp. Meine Pause ist schon seit fünf Minuten um, ich muss wieder hinein.

Heute habe ich noch keine grünen Busse gesehen. Bei diesen sieht man nicht, wer fährt, die Fenster sind vorne verspiegelt. Nur die Haarschöpfe der Passagiere, die in den oberen Reihen sitzen, erkennt man von aussen. Ein grüner Bus ist heute Morgen gekommen, zwei Fernbusse fehlen noch. Ich weiss genau, dass sie noch kommen, denke mir aber trotzdem: Heute habe ich noch keine grünen Busse gesehen.

Silvio steht vor dem Tankstellenshop neben den leeren PET-Flaschen und raucht. Er tippt auf sein Handgelenk, an dem keine Armbanduhr ist und schaut vorwurfsvoll. Ich gehe in den Laden, es stehen schon drei Leute vor der Kasse. Entschuldigend lächle ich sie an und bediene die Frau, die als erstes dran ist. Als nächstes ist ein Mann im mittleren Alter an der Reihe. Seine Hände sind gross. Ich erschrecke, etwas an ihm kommt mir vertraut vor, aber schnell merke ich, dass wir uns nie begegnet sind. Trotzdem höre ich mein Herz schlagen, während ich kassiere.

Silvio kommt zurück von seiner Pause, ich rieche zuerst den Tabakgeruch, den er mit sich zieht. Er nimmt das Schild vom Ladentisch. Die Leute, die im hinteren Teil meiner Schlange stehen, wechseln zu ihm. Silvios Piercing oberhalb der Augenbraue reflektiert sich im Röhrenlicht. An meinem ersten Arbeitstag hat er mir alles gezeigt. Wenn gerade keine Kundschaft kam, hat er mich vollgetextet. Er möchte eigentlich nach Berlin, hat er mir erzählt. Aber jetzt sei er in dieser Voralpenregion gelandet. Er brauche Geld, Schweizer Lohn, hat er gesagt und einen Kreis mit Daumen und Zeigefinger geformt. Ich bin froh, dass er aufgehört hat zu fragen, weshalb ich hier arbeite. Immer wenn ich ihn ansehe, zwinkert er mir zu, als hätte er etwas im Auge.

Im Shop läuft immer der gleiche Radiosender, er lässt sich nicht umstellen. Jedes Lied klingt gleich. Es riecht nach Aufbackbrötchen und Keller, auch ein wenig nach Benzin. Mit den Turnschuhen, die ich anhabe, kann ich ewig lange stehen, ohne dass meine Füsse schmerzen. An meinem Firmenshirt ist mein Name angebracht. Ich stelle die Zeitungen des Tages in die Ablage, lege gefrorenes Gebäck aufs Blech, schlage Münzrollen auf. Die Leute trotten herein, viele wie zufällig, andere zielstrebig. Ich kassiere, manchmal weise ich auf Aktionen hin und immer frage ich nach, ob sie getankt haben.

Etwa in einer Stunde kommt der zweite Bus. Jemand wird aussteigen, nur einer der beiden Fahrer. Und den zweiten, den der drinbleibt, den sieht man nicht, weil die Fenster die Aussenwelt spiegeln und das Innere verbergen. Schon das verringert die Möglichkeit beträchtlich.

Ich habe ein Muster bemerkt: Nach etwa einem Monat wird einer der Fahrer ausgewechselt und die Routen neu verteilt. Es könnte jeden treffen, diese Route zu übernehmen, die hier an dieser Raststätte tanken muss. Doch es gibt immer Unregelmässigkeiten. Manchmal ist auch mitten im Turnus ein anderer Fahrer in den Shop gekommen. Vermutlich weil der eine krank war oder noch Ferientage zugute hatte. Ich habe die Fahrer nie danach gefragt, wo der andere bleibt.

Den ersten Bus habe ich verpasst, er ist um sechs Uhr morgens gekommen. Gestern habe ich mir überlegt, ob ich zur Tankstelle fahren soll, nur um die neuen Fahrer anzusehen. Kurz vor dem Einschlafen erschien mir das übertrieben und ich habe den Wecker ausgestellt. Ich bin dann trotzdem um fünf Uhr erwacht, ohne Alarm, einfach von alleine. Ich hätte Silvio sagen können, dass ich den Arbeitsplan falsch gelesen habe, in der Zeile verrutscht bin. Das ist ihm schon passiert. Es wäre nicht sehr verrückt gewesen, wäre ich zur Morgenschicht schon da. Ich bin dann aber nicht

aufgestanden, sondern bin den ganzen Vormittag liegen geblieben und habe auf meinem Handy rumgespielt. In die Uni bin ich auch nicht gegangen, ich habe die Vorlesung versäumt. Manchmal ist es besser zu warten. Nächsten Donnerstag habe ich Frühschicht, dann werde ich den Fahrer des ersten Busses sehen. Der Enttäuschung muss man Hürden bauen und Hindernisse, damit sie den Weg nicht so einfach zu einem findet. So wie man mit Sand gefüllte Säcke neben einem überquellenden Fluss stapelt.

Frau Bürkli, die Chefin, kommt herein. Wir sagen zu ihr Frau Bürkli und sie duzt uns, dass sie das möchte, hat sie beim Anstellungsgespräch klargestellt. Sie schaut mir zu, wie ich an der Kasse stehe und die Leute bediene, dann sagt sie mir, ich soll öfters lächeln. Silvio lächelt nie, aber ihm sagt sie das nicht. Sie läuft an ihm vorbei und verschwindet hinten im Büro.

Die Farbe des T-Shirts, das die Frau trägt, die vor dem Kühlregal steht, sticht mir ins Auge. Ein Grün zum Schreien. Sie ist die erste Fahrerin der grossen Busse, die bisher in diese Raststätte gekommen ist. Nur sie ist ausgestiegen, ich sehe keinen anderen Fahrer neben dem Bus stehen und rauchen. Heute gibt es also nur noch eine Gelegenheit.

Vaters Hände sind Pranken und die Adern stechen hervor. Und ich frage mich, warum ich immer auf die Hände schaue, ich würde Vater sofort erkennen. Schon an der Art wie er vom Bus aussteigen und zum Shop laufen würde.

Die wenigen in der Uni, die wissen, dass ich hier arbeite, fragen mich, ob ich keine Angst habe. Kürzlich wurde eine Tankstelle überfallen. Die Titelseite der Lokalzeitung hat verpixelt schwarzgekleidete Gestalten gezeigt. Auf dem Überwachungsvideo hat man gesehen, dass die Einbrecher dem Verkäufer eine Schusswaffe an den Kopf gehalten haben.

Ich fürchte mich nicht vor Einbrechern. Ich würde es an der Zielstrebigkeit merken, dass jemand im Sinn hat, die Tankstelle zu überfallen. Vorhaben sieht man den Menschen in den Augen an und im Gang. Bestimmt würden sie auch gleich merken, dass ich ihnen alles geben würde. Sie müssten nicht einmal so tun, als wollten sie mich erschiessen. Das ganze Geld würde ich ihnen geben, alle Scheine hinlegen, all die Schokolade, die Zigaretten, den Schnaps und die Rubbellose. Sie müssten nur danach fragen. Ich packe es ihnen sogar in Tüten ein.

Selbst würde ich aber nie was einstecken, obwohl es dafür viele Gelegenheiten gibt, trotz der Kameras in allen Ecken. Hin und wieder starre ich ganz lange in die Objektive, versuche nicht zu blinzeln, das ist meine einzige Provokation. Dabei stelle ich mir vor, dass jemand die Aufnahmen ablaufen lässt und mich anblickt.

In wenigen Stunden kommt der letzte Bus für heute. Von diesem könnte Vater aussteigen, durch die Schiebetür treten und mich sehen. Ich weiss noch nicht, was ich ihm sagen werde, wenn er vor mir steht, hier in der Raststätte vor der Kasse mit seinem knallgrünen Firmenshirt, in dem er bestimmt albern aussieht. Ein Mann mit Bauchansatz und Halbglatze in so einer schreienden Farbe, die gute Stimmung machen soll. An den Oberarmen wäre das Shirt bestimmt zu eng, denn Vater ist stark.

Ich werde so tun, als wäre es ein Zufall, dass wir uns gegenüberstehen. Was genau ich ihm sage, werde ich aus der Situation heraus entscheiden. Was ich jetzt schon weiss, ist, dass ich ganz bestimmt nicht den Preis nennen werde, den er bezahlen muss für das Benzin.

Die Zeit bleibt beinahe stehen im Shop. Immer wenn ich auf dem Bildschirm die Ziffern ansehe, haben sie sich kaum verändert. Besser, ich putze die Plastikbehälter, in denen die trockenen Brötchen drin waren. Zuerst wische ich das Gefäss mit einem feuchten Tuch aus, die Krümel bleiben dran kleben. Dann spraye ich es mit Putzmittel voll und wische es mit Papier nochmals heraus. Das mache ich sehr sorgfältig und gründlich.

Silvio steht derweil an der Kasse. Was machst du heute Abend, ruft er herüber. Ich zucke mit den Schultern und er fragt mich, ob er heute früher gehen kann. Er hat eine Verabredung, aber vergessen, dass er so lange arbeiten muss. Ich zucke wieder mit den Schultern und sage okay.

Das letzte Mal, dass ich Vater gesehen habe, war, als ich in Paris war. Eigentlich war ich nur angereist, um ihn zu sehen, aber am Telefon habe ich ihm erzählt, dass ich wegen einer Studienreise in der Stadt war.

Ich habe in einem hell erleuchteten Café gewartet, welches er ausgesucht hatte. Er ist eine halbe Stunde zu spät gekommen. Als er da war, habe ich bemerkt, dass sein Haar schütterer geworden ist und sich feine Fältchen im Halbkreis um seine Augen gebildet haben. Alles andere war noch gleich – die Art, wie er zur Tür hereingekommen ist, sich gesetzt und sofort nach einem Bier gebeten hat. Ich habe gleich eins mitbestellt.

Er hat mir erzählt, dass er nicht mehr Lastwagenfahrer sei, sondern jetzt Fernbusse herumfahre. Da sei man mehr unter Leuten und die Strecken seien nicht mehr so lange, er könne mehr zuhause sein bei seiner Familie. Als er dann von seinem einjährigen Sohn erzählt hat, konnte ich nicht anders, als mir Vater in klein vorzustellen – seine grossen Hände, seine starken Arme an einem winzigen Körper.

Die Sonne ist bereits untergegangen, ich spiegle mich in der Scheibe, durch die man sonst die Tanksäulen sieht. Es regnet und es kommen kaum noch Leute in den Shop.

Heute ist es kalt, ich esse das Sandwich, das ich im Shop gekauft habe, hinten im Raum. Ich setze mich auf den Drehstuhl und nehme das Brötchen aus der Verpackung. Neben mir blättert Frau Bürkli in Papieren. Ich gebe mir Mühe leise zu essen und keine Unordnung zu machen. Ihre Hände sind ganz weiss und verschrumpelt, obwohl sie noch nicht alt ist. Es sieht so aus, als wäre sie lange im Wasser gesessen.

Um aufs Klo zu gehen, muss ich raus aus dem Shop, an den Tanksäulen vorbei. Ich nehme einen Schlüssel mit, der einen dicken, hölzernen Anhänger dranhat. Das Waschbecken ist so klein, dass mir beim Händewaschen Wasser über die Hose läuft.

Ein grosser grüner Bus rollt an, ich erkenne ihn durch die Spiegelung hindurch. Heute könnte es der Tag sein, an dem wir uns wiedersehen. Die Wagentür öffnet sich, während der Bus noch in Schrittgeschwindigkeit fährt. Schon an der Art, wie der Mann aussteigt, merke ich, dass es nicht Vater ist.

Am Schluss der Schicht wische ich den Boden. Ich fange hinten an, wo die Getränke stehen und wische in Richtung Kasse. Einmal habe ich aus Versehen beim Putzen das Kabel der Tiefkühltruhe herausgezogen. Alles ist aufgetaut. Im Behälter ist flüssige Glacémasse und Spinat geschwommen.

Im Eimer saugt sich der Mob mit Wasser voll, ich klatsche ihn gegen den Boden. Dabei denke ich an die Sandsäcke neben einem Fluss. Ich sage mir, man muss der Enttäuschung etwas in den Weg legen. Wenn ich Frühschicht habe nächsten Donnerstag, vielleicht ist das der Tag, an dem wir uns wiedersehen. Möglicherweise tritt er dann aus dem Bus und kommt in den Laden.

Er hat eine seltsam wackelige Art zu gehen, habe ich gedacht, als er sich im Café von mir verabschiedet hat, aufgestanden und gegangen ist, während ich noch sitzengeblieben bin. Weil sein Oberkörper so breit ist und seine Hüften schmal, sieht es so aus, als würde er ein wenig taumeln. So wie der grosse grüne Bus von vorhin, als er wieder losgefahren ist. Der grosse Kasten, der geruckelt hat und dann stotternd losgefahren ist, so als müsste er sich umsehen, bevor er verschwindet.

 

Maya Olah

 

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12 | Enno Ahrens

Lausige Weihnacht

Wir sind uns näher auf den Pelz gerückt,
Zeit des Lausens; ein wispernder Flockenwirbel
klopft sanft an eisfreier Doppelverglasung,
Herzströme scheinen in den Lichterketten zu fließen,
sehnsuchtsvoller Duktus in uns dimmt die grellen Dioden.
Wir blinzeln uns eine Winterlandschaft in
die Großstadt wie die bezaubernde Jeannie.
Schwermütig versinken wir in alten Bratapfelträumen,
als unsere Mutter noch da war; mein kleiner Bruder
hat noch ein paar Lebkuchen aufgetrieben von ihr,
sagt, darin lebt Mutter weiter, und wir
bewahren sie auf bis zum nächsten Heiligabend,
wenn es wieder darum geht zu lausen.

 

Enno Ahrens

 

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11 | Stéphanie Divaret

 

„They are mates, and like all true
companions they are devoted
and they bite.“

Keetje Kuipers – The Rats

 

wer sonst

hätte geschütze
wer sonst als sie hätte / also
wer hätte sie denn sonst geschützt
weil es brauchbar sei
ein brauch sich zu schützen
durch / also es zu brauchen
das geschütz zum schutz
den brauch zu schützen
die bräuche
was sonst
hätte schutz gebraucht
wer sonst als sie / also
wer glaubt schützt sich
und seine bräuche
braucht glauben an schutz
braucht schutz durch glauben
schützt sich
durch geschütze / also wer
also weil
es brauch ist
so wird es geglaubt

 

Stéphanie Divaret

 

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09 | Andreas Hutt

hier ist sogar kiefernwald möglich.
kläffen eines hundes, das die richtung vorgibt,
mit schiefer gepflasterte wege, folgen

die augen einem imaginären fingerzeig nach oben
ins rostrot verdorrte.  je höher wir steigen,
desto mehr schleicht sich kahles grün
in die knochen.

ist das ein wasserfall
der den geruch von moder
auslöst?

hinter dem hügel
leblose ausläufer der stadt.

 

Andreas Hutt

 

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08 | Melitta L. Roth

Ihr Schreiben von gestern ist gegenstandslos

Mir ist gestern beim Schreiben doch tatsächlich mein Gegenstand verloren gegangen. Als ich mich an den Schreibtisch setzen wollte, war er noch da, aber dann war er auf einmal weg. Wie weggeblasen.

Ich habe noch ein wenig herumgekramt, bis in die entferntesten Winkel des Gehirns gestöbert. Ohne Erfolg. Andere längst verschollene Sachen sind zutage getreten. Aber nicht das, worüber ich hatte schreiben wollen. So läuft es immer. Du suchst etwas und was anderes tritt an seine Stelle. Mit realen Dingen ist es ebenso. Du suchst deine Bahncard und andere längst vergessene Sachen treten zutage: ein verrosteter Nagel, ein leerer Labellostift oder eine Arbeitsbescheinigung, die dir vor zwei Jahren abhanden gekommen war und die du mühsam beim Arbeitgeber hattest wieder einholen müssen, wegen der Steuer. So ging es immer. Als wäre ein Plan dahinter.

Ich hätte noch ewig nachdenken können, sicher wären noch andere vergessene Ideen aufgetaucht. Fakt war, dass dieser gewisse Gegenstand, über den ich heute unbedingt hatte schreiben wollen, verschollen blieb. Wie ausradiert.
Bloß nicht suchen, das sei der beste Trick, damit Verschwundenes wieder auftaucht, so hatte es mir meine Mutter beigebracht. Und die hatte das von ihrer Mutter.

Egalsein, sagte sie, ist Zauberwort bei jeder Sucherei. Du musst so tun, als ob es dir komplett egal ist. Schreib dir das hinter die Ohren, Dotscha.

Natürlich sagte sie nicht genau das, sondern etwas wie: Bind dir das gefälligst auf deinen Schnurrbart, Dotscha.
Die Redewendungen wurden bei uns noch immer frei aus dem Russischen übersetzt. Und diese mit dem Schnurrbart schien aus einer sehr alten Zeit zu stammen, als die Mushiks noch prächtige Bärte trugen.
Überhaupt war der Umgang mit Sprachbildern in unserer Familie eher kreativ. Wenn etwas erstaunlich war, standen wir davor wie die Kuh vorm neuen Tor. Bei uns waren auch überall Tretmühlen versteckt, wir wurden abwechselnd übern Kamm gekehrt oder über den Tisch gehauen. Vielleicht hatte diese Art, Dinge zu überlisten auch etwas mit unserer Herkunft zu tun? Der Trick, nicht nur Menschen, sondern Dinge bewusst zu schneiden, damit sie nervös wurden und dir hinterherliefen. Willst du was finden, hör auf zu suchen. Gab es dieses Konzept auch im Westen?

Als ich klein war, habe ich mir folgendes darunter vorgestellt: Dinge wollen verborgen bleiben, sie sind wie kleine Kinder. Spielen gern verstecken und freuen sich diebisch, wenn sie nicht gefunden werden. Tust du dagegen so, als würden sie dich nicht im Geringsten interessieren, geben sie ihr Versteckspiel auf und kommen schmollend wieder hervor. Das gilt für Gegenstände wie für Gedanken. Mit der Zeit wird das, was wichtig war, eh wieder angeschwemmt, das ist der Lauf der Dinge. Oft geschieht das ganz unerwartet, in einem unbedachten Moment.
Am allerbesten sei es, so hatte es mir meine Mutter beigebracht, wie es ihre Mutter ihr immer gepredigt hatte, etwas komplett anderes zu tun, beispielsweise sich hinzulegen und zu schlafen. Na warte, denke ich und setze mich aufs Sofa, wirst schon sehen. Mir doch egal, wo du bleibst und ob ich später Lust habe, mich überhaupt mit dir zu befassen, mal sehen, wer von uns sturer ist.

Erst mal ein kleines Schläfschen. Plötzlich erinnere ich mich an dieses Wort. So hatten unsere Eltern das genannt, ein Schläf-s-chen machen, mit falschem s mitten im Wort. Sie hatten diese Art, Worte zu verdrehen oder auszuschmücken, sodass sie unabsichtlich niedlich wurden. Bei uns gab es Millich zum Frühstück oder ein Gast hatte eine Mitbring-Insel dabei und Ohrringe waren im besten Fall mit Steinen verzerrt.
Erst mal also ein Schläfschen halten? Wie lang war das her, dass ich das so gehört habe? Irgendwann, beim Aufwachen, werde ich mich schon daran erinnern, was ich schreiben wollte. Die prophetische Kraft der Träume. In der Antike gab es ganze Traumzentren, wohin Menschen sich zurückzogen, um zu träumen, sich zu heilen, wieder klarzukommen. Ein Retreat auf Delphi, das wärs jetzt.
In einem russischen Märchen schläft der Held auf einem warmen Ofen aus Ton, der den gesamten Raum der Hütte einnimmt und die Lösung kommt zu ihm wie von selbst. In einem anderen bittet die Froschprinzessin den Prinzen, sich keine Gedanken zu machen und sich schlafenzulegen. Der Morgen ist klüger als der Abend. Schlafen als Lösung eines Problems scheint mir ein eher östliches Konzept zu sein. Zu wenig protestantisch, zu wenig an einem alles bestimmenden Arbeitsethos orientiert. Busy busy bis zum Burnout ist doch die Devise. Wie heißt noch gleich dieser faulenzende Mensch in einem alten russischen Roman? Habs gleich, Oblomow. Ich schau kurz nach, und siehe da, es gibt mehrere Dutzend Synonyme für Nichtstuer im Russischen, einer davon Leshebok oder Lesheboka, also Lieg-auf-der-Seite. Das, was ich gerade mache.
Ich browse weiter, im Deutschen gibt es mehr als 150 Begriffe für Faulpelz. Gewonnen!
Zugegeben, die Lieg-auf-der-Seite-Methode führt nicht immer zum unmittelbaren Erfolg. Vor allem nicht sofort. Es kann Stunden dauern oder sogar Wochen oder Monate, bis der verschwundene Gegenstand sich bequemt, wieder ins Bewusstsein zu dringen. Die Dinge sind bekannt dafür, dass sie solche Spielchen gern in die Länge ziehen. Also musste ich das Spiel mitspielen, um den verfluchten Gegenstand zu reizen. Ich legte mich wieder hin. Vielleicht macht ihn meine mangelnde Aufmerksamkeit mürbe und er tritt zwischen den Falten der Erinnerung hervor? Bis dahin würde mein Schreiben eben gegenstandslos bleiben. Reine Deko. Wobei, Dekoration ist in ihrer Dreidimensionalität doch auch irgendwie gegenständlich. Oder etwa nicht? Während ich so liege, huscht unvermittelt eine wabernde Kontur vor meinem inneren Auge, na, gleich habe ich dich! Ach, doch nicht. Zu flüchtig.

 

Melitta L. Roth

 

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07 | Sophia Fritz

Adventszeit

  1. Türchen

Lars und ich haben heute zusammen unsere Spuren in den Schnee geknirscht. Ich habe ihm gesagt, dass du mir früher immer einen Kalender gemacht hast und ich mir dieses Jahr zum ersten Mal selbst was ausdenken musste.

Die Handschuhe stören, also lasse ich sie irgendwann fallen und hoffe, dass in seiner Halsbeuge kein Tellereisen versteckt ist.

  1. Türchen

Ich habe heute solange Jonas gegen meinen Bauch gepresst, bis er mir erzählt hat, was ihn wirklich nicht schlafen lässt. Danach wusste ich nicht mehr, was ich sagen sollte. Ich habe ihn noch eine Weile gehalten, aber irgendwann ist er gegangen und ich glaube nicht, dass er wiederkommt.

  1. Türchen

Der Schnee ist wieder weg, aber seit dir bin ich es gewohnt, auf Dinge, die plötzlich verschwinden, nicht mehr zu reagieren.

Ich war im Club, ich war in seiner Hose, er hat meine Hände weggeschoben und meinte: Eins nach dem anderen. Ich dachte: Einer nach dem anderen, und seitdem du nicht mehr da bist, sind alle nur noch Andere nach dem Einen.

  1. Türchen

Mein Herz ist eine Lande- und Startbahn ohne Funktower, d.h. ab und zu Nachricht von Paul: Schön, dass ich mich ab und zu in dir ausruhen darf.

  1. Türchen

Du hast den Zweitschlüssel zu deinem Schrebergarten immer an verschiedenen Orten versteckt und das sagt mehr über dich und das Verhältnis zu deinen Ex-Freundinnen aus, als dir wahrscheinlich lieb wäre.

Ich stand in der Mitte des Raumes und habe vor Enttäuschung angefangen zu heulen, weil ich dachte, dein Lieblingsversteck und ich hätten mehr Gemeinsamkeiten, aber hier ist alles noch genauso ordentlich und aufgeräumt wie vorher.

  1. Türchen

Gestern Abend habe ich noch einen alten Schuh von dir gefunden, mit Schokolade gefüllt und vor die Tür gestellt. Der Hund hat heute Morgen alles aufgefressen. Jetzt liegen wir zu zweit auf dem Boden und haben eine Wette mit dem Schnee am Laufen, wer von uns dreien am längsten liegenbleiben wird.

  1. Türchen

Heute hat Daniel mir durch die Trennwand der Unitoiletten erzählt, dass er mein Herz erobern möchte. Ich weiß nicht, wie er sich das vorstellt. Eine ausladende Wüste zu bezwingen, oder mit Ritterrüstung und Helm und Lanze loszustürmen und ein brachliegendes Feld zu finden.

  1. Türchen

Du hast mich aufgeschraubt wie eine Flasche, du hast deinen Korkenzieher in meinen Schaumstoff gebohrt, wenn du betrunken warst, habe ich dich mein blaues Wunder genannt und du hast den Ausdruck auf die Liste der Klischees gesetzt, mit denen wir uns nicht weiter ruinieren sollten.

Mein Waschbecken fragt manchmal noch nach dir.

  1. Türchen

Julian kennt mich inzwischen aus allen Perspektiven, ich kenne seine Perspektiven und befinde mich in keiner einzigen davon.

 

  1. Türchen

Ich habe Matze heute wieder für deinen Unfall verantwortlich gemacht. Ich habe Angst vor dem Tag, an dem er mir glauben wird.

  1. Türchen

Ich habe heute an den Türen von Freunden geklingelt, bis einer aufgemacht hat. Ich bin jetzt meistens die, die am längsten irgendwo bleiben will.

Seitdem du nicht mehr mein Zuhause bist, fällt mir der Heimweg schwerer.

  1. Türchen

Drei Leute haben mir heute erzählt, wie viel ihnen meine Ratschläge in letzter Zeit geholfen haben.

Wie viele Türchen muss ich aus den Angeln heben, bis du mich so sehr hasst, dass du eine Petition gegen mich unterschreibst?

 

  1. Türchen

Beinahe hätte ich Oliver gefragt, wie er die Frau vor mir genannt hat. Ich persönlich ändere die Kosenamen der Männer jetzt, als müsste ich mir irgendwas beweisen.

Ich meinte zu ihm, dass es nichts zu sagen hat, wenn ich mir in den letzten Monaten keine Zeit mehr für ihn nehme und dass wir uns deshalb nicht weniger bedeuten.

Aber eigentlich wissen wir beide, dass einer immer mehr Umstände für den anderen eingeht und dass wir seit Jahren noch keine genauere Skala für Liebe gefunden haben.

  1. Türchen

Als ich bei den Kosenamen bis F durchgekommen bin, habe ich angefangen, zu googeln. Wusstest du, dass der erste Name, der angezeigt wird, ‚Herzblatt‘ ist? Es gibt noch 228 weitere lustige Kosenamen für Männer und Frauen auf www.flirtuniversity.de, also muss ich mir in nächster Zeit keine Sorgen machen.

  1. Türchen

Marta versucht immer herauszufinden, wie es mir wirklich geht, also habe ich ihr heute gesagt, dass sie zu dick ist und mich nie ganz verstanden hat, bis sie langsam angefangen hat zu weinen.

Du lässt plötzlich Dinge zu, die wir beide mir früher nie hätten durchgehen lassen.

Die Leute sagen, manchmal suchen einen Geister heim, aber die einzige, die noch nach einem Geist sucht, bin ich.

  1. Türchen

Deine Abwesenheit ist manchmal so präsent, ich würde ihr gerne Biotin-Tabletten geben, damit ihre Haare länger werden und ich sie endlich zu Abendveranstaltungen mitnehmen kann ohne mitleidig angestarrt zu werden.

Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten und bin über das Klofenster nach draußen ge­klettert. Ich habe mich wie die Protagonistin eines Musikvideos gefühlt, für das ich mich selbst schämen würde, es in meiner Playlist zu haben.

  1. Türchen

Heute habe ich versucht, Gott mit einem Kissen zu ersticken, dabei weiß ich doch schon von zwei Dingen, die ganz sicher nicht existieren: Gott und sanfte Gewalt.

  1. Türchen

Tinder, aber für Verletzte. Tinder, aber für Romantiker. Tinder, aber als Kalender. Tinder, bis meine Fehler anfangen, aus mir zu lernen.

  1. Türchen

Heute bin ich mit einem Mann mitgegangen, auf dessen Jacke fett SECURITY draufstand, weil ich dachte, dass man sich sowieso nicht mehr wünschen kann. Ich war zu müde, um mit ihm zu schlafen, und als ich ein paar Stunden später aufgewacht bin, war er nicht mehr in der Wohnung. Den Stempel für den Club lasse ich mir jetzt immer direkt über den Pulsadern geben.

  1. Türchen

Anna hat sich heute in der Mittagspause zu mir gesetzt, weil sie sich Sorgen um mich macht. Anna weiß, dass ich mich früher meinen Problemen immer angenommen habe und jetzt selbst von meinen Problem genommen werde, meistens von hinten. Anna weiß nicht, wie sie mir helfen kann.

Ich vermisse deine Unterschrift auf meiner Daseinsberechtigung.

 

  1. Türchen

Es gibt einen Kurzbefehl, um mich zu öffnen und die Kombination der Tasten wird immer beliebiger. Ich will dir noch sagen: Ich weiß jetzt, du warst der eine Liebhaber, der mich wirklich lieb gehabt hat.

  1. Türchen

Weil in zwei Tagen Weihnachten ist, breche ich heute in den Antiquitätenladen ein und klaue eine Landschaft. Mein Leben ist ein eingefrorenes Bild und wenn alle Linien auf dich zulaufen, bist du immer noch meine Fluchtperspektive, selbst wenn du außerhalb des Rahmens liegst.

  1. Türchen

Ich wollte immer mein Leben in den Griff kriegen aber ich wünschte, ich könnte dich noch einmal mit beiden Händen in den Griff kriegen. Du bist immer noch der Mann meiner Träume und ich würde gerne mal wieder ruhig schlafen.

  1. Türchen

24 Menschen wie Türen aufgestoßen, 24 mal meinen Fuß im Spalt stehen lassen, aber ich finde noch nicht mal das Kellerfenster zu mir selbst, ich ziehe mich aus Affären und kann nicht aufhören dich mitzuschleifen.

 

Sophia Fritz

 

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06 | Martina Berscheid

Bevor alles verschwindet

Papa wartet schon vor der Haustür. Mein Herz schlägt schnell, wie immer, wenn ich ihn besuche. Ich atme tief durch. Steige aus dem Wagen, nehme die Kuchenschachtel vom Beifahrersitz.

Das Gras im Vorgarten ist von Reif überzogen. Eine graue Wolkendecke verhängt den Himmel. In zwei Wochen ist Weihnachten und meine Töchter wünschen sich Schnee.

Ich hingegen hoffe auf einen warmen Winter. Mir graust bei der Vorstellung, Papa könnte die glatte Vortreppe hinunterstürzen.

Papa tapst mir entgegen. Er ist noch dünner geworden. „Hallo Marlene.“

Seine Umarmung riecht nach saurer Milch. Ich wende den Blick ab vom Schmutzrand, der seinen Hemdkragen einsäumt.

Wie immer erkundigt er sich zuerst nach Uwe und den Mädchen, und ich muss ihm versichern, dass es allen bestens geht.

Er nimmt mir den Kuchen ab. „Brauchst dir doch nicht solche Umstände zu machen“, murmelt er, aber ich sehe am Leuchten seiner Augen, wie sehr er sich freut. Auch wenn es meine Backkünste bei Weitem nicht mit denen meiner Mutter aufnehmen können.

Im Flur riecht es nach nasser Wolle. Ich stelle ein umgestürztes Paar verdreckter Gummistiefel auf, gehe in die Küche und unterdrücke ein Seufzen. In der Spüle stapelt sich Geschirr, der Herd ist übersät mit Soßenspritzern, der Boden fleckig. Aus dem Mülleimer hängt eine Bananenschale wie eine ausgestreckte Zunge.

Als ich das letzte Mal anbot sauberzumachen, wurde Papa wütend. Auch von einer Putzhilfe wollte er nichts wissen. Seitdem schwelt das Thema zwischen uns, und beide haben wir Angst, dass es erneut aufflammt und wir uns daran verbrennen.

Ich öffne den Kühlschrank, wo ein Stück Käse und zwei Möhren vereinsamen, und stelle den Topf mit Suppe hinein, die ich ihm vorgekocht habe.

Im Küchenschrank finde ich löslichen Kaffee und glücklicherweise noch sauberes Geschirr. Ich setze Wasser auf, schütte Kaffee in die Tassen und hole den Kuchen aus der Form.

Die Eckbank quietscht, als Papa sich setzt.

„Ach Marlenchen“, seufzt er. „Gedeckter Apfel.“

Er strahlt mich an, und ich streiche ihm über den Handrücken.

Der Kessel pfeift, ich gieße Wasser in die Tassen. Aus meiner Tasche hole ich eine Packung H-Milch. Fehlen nur noch die Gabeln.

Die Besteckschublade ist leer. Ich ziehe ein Schubfach nach dem anderen auf, irgendwo werden doch noch zwei saubere Gabeln sein.

„Lass doch, Marlene. Essen wir den Kuchen halt auf der Hand.“

Ich reiße die letzte Schublade auf. Und erstarre.

Statt Besteck finde ich ein Schreibheft. Mamas Name steht darauf. In ihrer Handschrift. Ich nehme es heraus, halte es hoch.

„Was ist das?“

Papa senkt den Kopf. „Ich hab es vor ein paar Wochen da drin gefunden.“

Ich setze mich zu ihm an den Tisch. Schlage das Heft auf.

Bevor alles verschwindet.

Ich muss schlucken und lese trotzdem weiter.

Heute war Marlene mit den Mädchen da, Lisa und Alina. Das weiß ich nur, weil Marlene sie so angesprochen hat: Lisa und Alina, zeigt mal der Oma, was wir ihr mitgebracht haben.

Ich hatte ihre Namen vergessen. Dabei sind sie so schön.

Ich erinnere mich an jenen Nachmittag, weil es da anfing. Sehe meine Mutter vor mir, wie sie da saß, den Blick auf ihre Enkelinnen gerichtet. Ein Blick wie eine offene Wunde. Weil sie ahnte, dass ihr Geist zerfallen würde.

Ich blättere weiter, lese quer. Alltagsbeschreibungen und Eindrücke. Ein herrlicher Herbsttag. Himbeertorte! In dem Stil. Von Seite zu Seite wird die Schrift krakeliger. Wörter weichen Zickzacklinien und werden durch hilflose Umschreibungen ersetzt: roter Baum statt Ahorn.

Später klaffen ganze Lücken in den Zeilen. Irgendwann hat Mama mitten im Satz abgebrochen. Die Leere, die dahinter gähnt, offenbart ihre ganze Verzweiflung über das zunehmende Nichts in ihrem Kopf.

Die Trauer schlägt mich mit voller Wucht. Ich schließe die Augen, aber die Tränen kommen trotzdem.

Plötzlich fühle ich Papas Hand auf meiner Schulter.

„Ich konnte es nicht wegwerfen“.

Seine Stimme vibriert.

Mit Hingabe hatte sich Papa, obwohl er gerade einen Schlaganfall überwunden hatte, an der Betreuung meiner Mutter beteiligt. Seit ihrem Tod schwindet ihm die Kraft.

Seine Hände zittern.

„Komm, wir essen Kuchen“, schlage ich vor. „Ich habe ihn nach ihrem Rezept gebacken.“

Er nickt, als wäre das ein Trost. Wir essen mit den Händen.

„Sie fehlt mir so, Marlene.“ Die Worte rieseln leise aus seinem Mund.

„Papa. Möchtest du nicht doch zu uns ziehen?“

„Nein.“

Mit dem Zeigefinger schiebt er ein paar Krümel auf dem Teller hin und her. „Ist lieb von euch, aber … Manchmal bilde ich mir ein, sie ist noch da. Dann hör ich ihr Lachen, ihre schnellen Schritte.“

Ich lege meine Hand in seine. Seine Haut ist rau, übersät mit hornigen Zähnchen. Sie verhaken sich in meiner Handfläche, als wollten sie verhindern, dass wir uns voneinander lösen.

„Dann komm wenigstens über Weihnachten. Bitte, Papa.“

Er wiegt den Kopf hin und her.

Plötzlich fallen mir die Sterne aus Goldpapier ein, die meine Töchter für ihn gebastelt haben. Ich ziehe sie aus der Tasche.

„Ach.“ Seine Finger streichen über die krummen Zacken, sein Blick driftet weg, zu einer Erinnerung, vielleicht daran, wie meine Mutter zur Weihnachtszeit das Haus schmückte, mit Tannenzweigen und Strohsternen, Kerzen vor den Fenstern.

„Na gut.“ Er räuspert sich. „Aber jetzt musst du zu deiner Familie.“

Er hat recht. Draußen dämmert es schon. Er steht auf, taumelt, und ich packe ihn gerade noch rechtzeitig. Er sieht mich an, und seine Augen spiegeln meine Furcht: vor dem Tag, an dem er stürzen und ich ihn hier leblos finden werde.

„Bis nächste Woche.“

Papa umarmt mich, wir halten uns ein paar Sekunden.

Wie immer schließt er hinter mir ab. Ich weiß, dass er mir durch das Glas der Haustür nachschaut, bis mein Wagen hinter der nächsten Kurve aus seinem Sichtfeld verschwindet.

 

Martina Berscheid

 

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